Isch geh Schulhof: Erfahrung
viele Lehrkräfte angesichts der vorhandenen Unterrichtssituationen verständlicherweise überfordert sind. Doch in unserer politischen Klasse scheint auch dieser Umstand noch nicht registriert worden zu sein. Weder die finanzielle Ausstattung der Schulen noch die Aus- oder Weiterbildung von pädagogischem Personal wurde bisher an diese veränderten Bedingungen angepasst.
Vielleicht ist es also gar nicht schlecht, dass innerhalb der nächsten sechs Jahre über sechzig Prozent unseres Kollegiums in Rente gehen – vorausgesetzt, es rücken Lehrer nach, die über das nötige pädagogische Fingerspitzengefühl verfügen.
»Ich habe bereits mit Frau Juhnke darüber gesprochen«, sagt Frau Uhle plötzlich und gewinnt damit meine Aufmerksamkeit zurück. »Du wirst den Deutschunterricht ab sofort übernehmen.«
Ich? Soll ich vielleicht einfach alle Kinder auf einmal unterrichten und dazu die Posten des Hausmeisters und der Sekretärin übernehmen?
An die vollkommen unerwartete Weitergabe solcher Aufgaben an mich habe ich mich zwar langsam gewöhnt, aber noch ein Hauptfach in einer sechsten Klasse – ist das nicht ein bisschen zu viel des Guten?
Frau Uhle beruhigt mich jedoch: Das Niveau der Klasse, das wisse ich ja schließlich, liege so weit unter der zu erwartenden Norm, dass es eigentlich nur besser werden könne. Na gut.
Im Fall Sebastian schlage ich vor, dass wir ihn drei Tage vom Unterricht suspendieren und ihn an jedem dieser Tage mit so vielen Hausaufgaben versorgen, dass er gar nicht auf die Idee kommen kann, die Zeit als Urlaub zu verbuchen. Sie nickt und bedankt sich für meine Aufmerksamkeit, sodass ich mich direkt in den Deutschunterricht stürzen kann. Dafür fallen ab sofort zwar einige meiner Stunden als Zweitlehrer weg, aber das wird die Kollegin schon früh genug merken.
Als ich die 6a betrete, befindet sich Sebastian bereits wieder in einer Klopperei, die ich kurzerhand beende.
»Meine Mutter is keine Pennerin, klar?«, brüllt er mit Tränen in den Augen einen Mitschüler an und versucht, sich an mir vorbeizuschieben. Dass Sebastians Mutter Obdachlosenzeitungen in der S-Bahn verkauft, ist mittlerweile in der gesamten Schule bekannt.
Während ich ihn zu seinem Platz begleite, mustere ich ihn. Er hat dünnes Haar, und über seinem dürren Körper hängt schmutzige und abgetragene Kleidung. Sogar seine Schuhe sind zu groß und haben Löcher. Sein eigentlich sehr wacher Blick ist getrübt von Wut und Verzweiflung. Er schmeißt sich auf seinen Stuhl und schaut mich böse an. Sebastian ist immer noch vollkommen außer sich, als er sich nervös die trockenen Hände reibt und an seinen abgeknabberten Fingernägeln herumpult.
Ich schlage ihm vor, einen Schluck zur Beruhigung zu trinken, doch er hat nichts dabei. Auch kein Essen, auch kein Geld, um etwas zu kaufen. Keine gute Voraussetzung für einen Schultag. Seine Augen wirken müde und starren aus dunklen Höhlen an die Wand. Um halb zwei sei er im Bett gewesen, meint er, und auf meine Frage, was er bis dahin gemacht habe, leuchten seine Augen plötzlich.
»Computer gespielt. Leute abgeballert. Voll geil!«
Seiner Mutter ist das wohl egal, denn aus seinen Erzählungen geht deutlich hervor, dass ihr Alkoholpegel am frühen Abend meist hoch genug ist, um sie auf der Couch einschlafen zu lassen. Wo sein Vater ist, weiß er nicht, und seinen Bruder, den sieht er nur zu den Besuchszeiten im Jugendknast. Kein Funke Emotion schwingt bei seinen Erzählungen mit.
Ich dagegen atme tief durch und muss kurz gegen die Tränen ankämpfen. Als ich die Geschichten verwahrloster Kinder nur aus der Zeitung kannte, war mir nicht ansatzweise klar, wie es sich anfühlt, neben so einem Kerlchen zu sitzen und aus seinem Mund zu hören, in welcher Situation er sich befindet. Über sein Verhalten wundere ich mich schon lange nicht mehr, und nach seinem trostlosen Bericht kann ich meine Vorwürfe nun endgültig vergessen.
Ich erkläre ihm, dass ich um die schwierige Situation zwischen der gesamten Klasse und Frau Uhle wisse, mache ihm aber auch unmissverständlich klar, dass das kein Freibrief für sein Verhalten sei. Er nickt. Als er erfährt, dass ich ihn drei Tage vom Unterricht suspendieren werde, kommt Freude auf.
»Geil, dann kann isch den ganzen Tag zocken!«
Die Nachrichten über die Flut an Hausaufgaben, die ich ihm aufgeben werde, trübt seine Freude zwar etwas, doch richtig erschrocken reagiert er erst, als ich ihm mitteile, dass wir seine Mutter zu einem
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