Isch geh Schulhof: Erfahrung
ebent!«
Als ich wenige Tage später die Schule betrete, stürmen drei Schülerinnen aufgeregt auf mich zu.
»Herr Mülla, ein Pennerin is in der Schule. Was macht sie hier?«
Noch verstehe ich den Zusammenhang nicht und versuche, die Mädels zu beruhigen, doch die versichern mir, auf den Fluren eine Frau gesehen zu haben, die in der U-Bahn Obdachlosenzeitungen verkauft.
Aha, Sebastians Mutter ist also schon da.
Ich kläre die drei auf und bitte sie, nicht mehr lauthals herumzubrüllen, dass sich eine Obdachlose in der Schule aufhält. Als ich am Sekretariat ankomme, sitzt eine kleine dürre Frau auf der Wartebank, die ich ohne Weiteres als Sebastians Mutter erkenne. Ihr Sohn ist ihr wie aus dem Gesicht geschnitten, doch in ihrem hat der Alkoholismus deutliche Spuren hinterlassen. Sie ist komplett in Jeansstoff gekleidet und trägt ausgelatschte Männerturnschuhe, deren Schnürsenkel sie wegen der falschen Größe sehr eng zugezogen hat.
Ich stelle mich ihr vor, und als sie mir die Hand schüttelt, fällt mir sofort das starke Zittern auf, das offensichtlich ihren gesamten Körper erschüttert. Noch habe ich keine genaue Vorstellung von den Ursachen, sondern kann nur vermuten, das sie schwer alkoholkrank ist.
Ich bitte sie ins Büro der Schulleitung, wo sie zitternd Platz nimmt. Der Konrektor und ich haben uns darauf geeinigt, dass ich das Gespräch leite und er nur dann eingreift, wenn sie sich uneinsichtig zeigt. Das scheint allerdings nicht nötig zu sein.
»Ick sehe allet ein«, gibt sie in unterwürfigem Tonfall sofort zu und erklärt uns dann, dass sie ihr Bestes tun wird, um die Situation mit ihrem Sohn in den Griff zu bekommen. Während sie spricht, werden die Spuren des massiven Alkoholkonsums immer deutlicher, und als sie ihr Jeanshemd hochkrempelt, sind strichförmige Narben auf ihren Unterarmen zu sehen – Spuren des sogenannten Ritzens, eine besondere Form der Autoaggression. Ihr Gebiss weist zahlreiche Lücken auf, die übrigen Zähne sind in einem furchtbaren Zustand. Je länger sie spricht, desto mehr bekomme ich den Eindruck, dass sie nicht nur alkoholkrank ist, sondern im Laufe ihres Lebens auch mal an der Nadel hing. Oder hängt.
»Wissen se«, schließt sie ihre Ausführungen ab, »als der Jürjen noch dajewesen war, also dit is den Sebastian sein Papa, da war dit alles noch nich so schlimm jewesen.«
Ihrem Sohn fehle eine Vaterfigur, fährt sie fort, weshalb er zu Hause mache, was er will.
Den Eindruck habe ich auch. Ich erkläre ihr, dass Sebastian in den nächsten drei Tagen immer um acht Uhr morgens in die Schule kommen müsse, um sich seine Aufgaben abzuholen und die vom Vortag abzugeben. Ich bitte sie darum, am dritten und letzten Tag gemeinsam mit ihm die Aufgaben abzugeben, sodass wir ein abschließendes Gespräch mit der Schulleitung führen können. Außerdem teile ich ihr mit, dass ihr Sohn ein schlaues Kerlchen sei, ich aber vermute, ihm mangele es an Struktur. Dann spreche ich mit ihr über seine häufige Computernutzung.
Aus medienpsychologischen Untersuchungen geht deutlich hervor, dass Computerspiele ein Suchtmittel sein können – und weil Sebastian offensichtlich eine genetische Begünstigung für Suchtkrankheiten hat, möchte ich der Sache auf den Grund gehen. Auf die Ballerspiele angesprochen, die ihr Sohn nach eigener Aussage spielt, winkt sie verharmlosend ab, also muss ich vermutlich etwas konkreter werden.
»Sagt Ihnen der Begriff Ego-Shooter etwas?«
»Nee, wat is dit?«
Sie kratzt sich nervös und lange an der Schulter.
»Das sind Computerspiele, bei denen es darum geht, aus der Perspektive des Schützen so viele Menschen wie möglich zu töten«, erkläre ich ihr.
Dann zähle ich die Waffen auf, die zu diesem Zwecke virtuell zur Verfügung stehen, und ziehe einen Vergleich, den ich erst vor Kurzem in diesem Zusammenhang gelesen habe: Wenn Piloten während ihrer Ausbildung am Flugsimulator lernen, warum sollten dann nicht auch Kinderhirne von den zigtausend Morden lernen, die sie im Laufe der vielen Stunden vor dem Bildschirm begehen?
Den Verweis auf die Spiegelneuronen spare ich mir, aber auch in diesem Zusammenhang spielen diese natürlich eine zentrale Rolle: Bei jedem Kopfschuss, bei jeder aufgeschlitzten Kehle und jedem abgesägten Arm simulieren Spiegelneuronen im Hirn der Zocker eine abgeschwächte Version der Gefühle, die bei diesen Handlungen entstehen. Je öfter solche Tötungen also am Monitor ausführt werden, desto mehr gewöhnt sich das
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