Isch geh Schulhof: Erfahrung
Hirn an diese Bilder, sodass eine Desensibilisierung gegenüber diesen gewalttätigen Handlungen entsteht.
Selbstverständlich wird nicht jeder Zocker zum Mörder, aber je instabiler die Persönlichkeit eines Menschen ist, je stärker ein Mensch ohnehin zu aggressiven Handlungen neigt, desto höher ist die Gefahr einer Übertragung der digitalen Gewalt in die analoge Welt. Bestes Beispiel: Sebastian, der in seiner Klasse damit allerdings nicht allein dasteht.
Das zeigte eine kleine Umfrage, die ich vor einigen Tagen in der 6a durchgeführt habe: Mehr als sechzig Prozent der Schüler gaben an, mindestens einen Teil der Filmreihe Saw gesehen zu haben. Dabei handelt es sich um ausgesprochen brutale Filme, in denen psychische und physische Gewalt ausgeübt und explizit dargestellt wird. Und obwohl diese Filme mit FSK 18 eingestuft werden, gaben vier Kinder sogar an, sie im Beisein ihrer Eltern gesehen zu haben.
In diesem Zusammenhang muss ich mir natürlich klarmachen, dass auch ich nicht von Videospielen oder Horrorfilmen verschont geblieben bin – aber im Vergleich zu Sebastian und unzähligen anderen Kindern gibt es dabei wesentliche Unterschiede: das Alter, die Häufigkeit und Dauer, die Qualität der Filme und Spiele und die damit verbundene Erlebnisintensität und – last, but not least – der soziale Hintergrund. Der statistische Zusammenhang liegt auf der Hand: Je instabiler die Verfassung eines Kindes oder Jugendlichen ist, desto weniger ist er oder sie in der Lage, die am Bildschirm beobachteten oder ausgeführten Taten zu verarbeiten. Oder anders gesagt: Wenn Menschen aus irgendwelchen Gründen eine erhöhte Gewaltbereitschaft zeigen, ist der Weg vom Online-Gemetzel zur Offline-Gewalt oft nicht weit.
Weil ich die Gefahren, die vor diesem Hintergrund teilweise jetzt schon von Sebastian ausgehen, als sehr hoch einschätze, entscheide ich mich dazu, seiner Mutter noch etwas stärker auf den hohlen Zahn zu fühlen. Als ich sie auf ihre häusliche Situation anspreche, wendet sie beschämt den Blick ab. Ich werfe also schnell ein, ihr daraus keineswegs einen Vorwurf zu machen – vor allem nicht für ihre Suchtkrankheiten. Sie zückt ein Taschentuch und tupft sich zitternd eine Träne von der Wange. In medizinischer Sicht können wir ihr zwar nicht weiterhelfen, aber bei der Erziehung ihres Sohnes schon. Deshalb spreche ich mit ihr eine Taktik ab, schicke sie nach draußen und bitte Sebastian ins Büro. Ich erkläre ihm, dass seine Mutter ihm für die nächsten drei Tage seine Tastatur und seine Maus wegnehmen wird. Das trifft ihn hart.
»Meine Mutter, diese F…«
»Sebastian, das war meine Entscheidung«, unterbreche ich ihn und schicke eine Warnung hinterher, welche die drohende Löschung seiner Festplatte beinhaltet. An meiner Wortwahl kann er erkennen, dass ich nicht nur bereit, sondern auch in der Lage bin, meine Drohung umzusetzen. Aus medienpädagogischer Perspektive dürfte die Ahnungslosigkeit vieler Eltern die größte Hürde im Umgang mit problematischen Medien sein.
Als ich Sebastian nach draußen auf den Flur begleite, erlebe ich die beiden dann erstmalig gemeinsam. Eine hilflose drogensüchtige Mutter und ihr perspektivloser computerspielsüchtiger Sohn. Innerlich bin ich immer wieder kurz davor, Sebastian und seine Mutter als hoffnungslosen Fall abzuschreiben – aber das wäre zynisch, und für Zynismus bin ich immer noch zu jung. Wieder im Büro angekommen, sieht mich Tom traurig an. Wir stehen uns einen Moment gegenüber und überlegen, was wir dazu noch sagen sollen – aber heute wird uns dazu nichts Sinnvolles mehr einfallen.
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Danke, dass du uns Deutsch lernst!
W ie vermutet hat Sebastian mit dem Erledigen der Hausaufgaben keinerlei Probleme. Abgesehen von seiner desaströsen Handschrift hat er alle Aufgaben fehlerfrei abgegeben, und auch das abschließende Gespräch mit ihm und seiner Mutter war erfreulicher als das vorherige. Und doch beschleicht mich bei der Verabschiedung das mulmige Gefühl, unsere Aktion könnte nur ein Tropfen auf den heißen Stein gewesen sein.
»Daran jewöhnste dich besser«, gibt mir Rolf zu verstehen. »Ick mach solche Spielchen jetzt lange genug mit. Am Ende ändert sich nüscht!«
Mein kurz aufflammender Frust verfliegt allerdings recht schnell, denn hier in der Schule läuft es wie in der weiten und schmutzigen Landschaft medialer Berichterstattung: Probleme werden nicht gelöst, sondern nur durch die nächsten verdrängt. Und die warten ganz
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