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Isegrim

Isegrim

Titel: Isegrim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Babendererde
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mir hoch. Voller Panik hämmere ich mit den Fäusten gegen die Tür. »Was hast du mit mir vor, du perverses Schwein? Lass mich hier raus, ich ersticke … ich …« Heisere Schluchzer kommen aus meiner Kehle und ich sinke vor der Tür auf die Knie.
    Leise wimmernd rolle ich mich auf dem kühlen Laminatboden zusammen, spüre, wie sich die Angst unaufhaltsam durch jede Faser meines Körpers frisst. Es ist eine glühende, pulsierende Angst, die meine Glieder lähmt, meine Gedanken und meinen Willen.
    Lass es nicht zu, Jola . Du hast keine Angst. Du kennst keine Angst. Lass nicht zu, dass sie Besitz von dir ergreift. Angst ist eine Falle, Angst macht dich zum Opfer. Sie kann dich auffressen wie ein wildes Tier und nichts als bleiche Knochen übriglassen.
    Oh doch, ich habe Angst. Sie dringt mir aus allen Poren und ich kann nur versuchen, mich nicht von ihr lähmen zu lassen. Ich schließe die Augen und in Gedanken schlüpfe ich in mein Herrin-des-Waldes-Ich. Ich laufe den vertrauten Pfad bis zu meiner Freundin, der uralten Kiefer. Ich kann ihre rissige Rinde in meinem Rücken spüren und habe den süßen Duft des Harzes in meiner Nase. Flügelschlagen über meinem Kopf. Äste knacken, ein dunkler Schatten schleicht um meine Beine: die Wölfin. Ihre bernsteinfarbenen Augen blicken mich an. Es ist keine Schande, Angst zu haben, scheinen sie zu sagen. Auch ich habe Angst, nur deshalb lebe ich noch. Du bist stark, Jola. Kämpfe!
    Ich nehme all meine Kraft zusammen, rappele mich auf und tappe zurück in das winzige Bad ohne Spiegel. Ich drehe den Hahn auf, lasse das Wasser eine Weile laufen, bevor ich in gierigen Zügen trinke und mir das Gesicht wasche. Der Angstschweiß unter meinen Achseln stinkt barbarisch, ich werfe einen sehnsuchtsvollen Blick auf die Dusche.
    Nein, unmöglich. Das kann ich nicht riskieren.
    Ich gehe zurück in die rosa Kammer, um die Bilder an den Wänden genauer zu betrachten. Vielleicht können sie mir eine Antwort auf die Frage geben, wo ich hier bin. Schon nach den ersten Blicken wird mir schlecht, beinahe muss sich mich übergeben. Die Bilder, sie wimmeln von Elfen, Feen und pinkfarbenen Einhörnern, die zwischen Bäumen mit dunkelfingrigen Kronen herumspringen.
    Â»Was ist der Unterschied zwischen Feen und Elfen?«, habe ich Alina damals gefragt.
    Â»Elfen müssen laufen und Feen haben Flügel«, höre ich ihre Stimme so deutlich, als würde sie neben mir stehen. Kein Zweifel, diese Bilder hat Alina gemalt. Nur sie malte Bäume auf diese Art. Die Erkenntnis zieht mir fast den Boden unter den Füßen weg: Alina ist hier gewesen. Nicht nur zwei Tage – sie hat in diesem Verlies gelebt, tagelang. Wochen-, vielleicht sogar monatelang. Abgeschnitten von der Welt und allem, was sie liebte. Wie im Fieber betrachte ich ihre Bildergalerie. Die Gestalten werden detailgetreuer, die Bäume kunstvoller. Oh mein Gott!
    Auf einem Bild ist ein Mann mit einem schwarzen Hund auf einer grünen Wiese zu sehen. Der Mann hat einen dunklen Haarkranz, drei Haare sind über die Glatze gezogen. Seine Hose wird von breiten Hosenträgern gehalten. Rudi Grimmer – das kann nur er sein. Er streckt seine Arme nach einer kleinen goldhaarigen Fee im hellblauen Kleid aus, die ihm mit ihren zarten Flügeln davonfliegt, einer dicken gelben Sonne entgegen.
    Was hast du mit ihr gemacht?
    Tränen des Zornes sammeln sich in meinen Augen. Minutenlang versuche ich, mir vorzustellen, wie es Alina ergangen sein muss. Wie lange hat sie gehofft? Hat Grimmer sie … Ich schließe die Augen, um den Gedanken auszublenden, dass er Alina missbraucht hat, bevor er sie tötete.
    Dass sie hier in diesen rosa Kerker gesperrt war und vergeblich hoffte, während für alle anderen das Leben weiterging, ist mir ein unerträglicher Gedanke. Ich umschlinge meine Schultern, mir ist plötzlich kalt. Meine Sachen sind klamm, aber die Kälte kommt tief aus meinem Inneren. Mein Körper krümmt sich vor Entsetzen und Scham zusammen, Tränen rinnen über meine Wangen.
    Was ist aus dir geworden, Waldfee? Hat er dich erst ewig in diesem Keller gehalten wie ein Tier, um dich dann später doch zu töten?
    Fakt ist: Du bist nicht mehr hier.
    Ich habe deinen Platz eingenommen.
    Aber ich lebe noch.
    Ich will nicht sterben, Alina.
    Ich will nicht enden wie du.
    Ich setze mich aufs Bett und wickele mir die Decke um die Schultern.

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