Isegrim
für den nächsten Tag zu packen, aber das lässt er nun sein, nimmt mich stattdessen in die Arme, küsst mich, drückt mich an sich. »Schön, dass du noch vorbeikommst, Jola.«
Kai freut sich so offensichtlich, mich zu sehen, doch ich fühle mich nicht wohl in meiner Haut. In diesen letzten drei Tagen ist er mir merkwürdig fremd geworden. Und auf einmal weià ich nicht mehr, über was ich mit ihm reden soll. Mir fällt auf, dass er Ringe unter den Augen hat und übernächtigt aussieht.
»Du scheinst ja ganz schön losgelegt zu haben am Wochenende. Hast du mit Johanna die GroÃstadt unsicher gemacht.«
»Von wegen.« Er fährt sich mit beiden Händen durch seine schwarzen Locken. Dabei entdecke ich zwei rote Male an seinem rechten Unterarm, dicht nebeneinander. Unschwer zu erkennen, was das ist. Ich frage ihn trotzdem.
Kai lässt sich seufzend auf sein Bett fallen und dreht die Bissmale ins Licht. »Die sind von Elli«, sagt er. »Sie beiÃt einfach zu, wenn ihr etwas gegen den Strich geht. Sie wird immer schwieriger, macht, was sie will, der kleine Teufel. Johanna kann sie kaum noch bändigen.«
Kais Nichte Elli war von Anfang an ein schwieriges Kind, aber seit sie in die Schule geht (sie ist jetzt in der zweiten Klasse), hat Kais Schwester dauernd Ãrger mit ihrer Tochter. Kai hat mir mal erzählt, dass sie mit dem Mädchen von einem Psychologen zum nächsten gerannt ist, die sich jedoch an Elli die Zähne ausgebissen haben. Aufmerksamkeitsdefizit, diagnostizierte der eine, eine milde Form des Asperger-Syndroms der nächste und eine Psychologin mutmaÃte schlieÃlich sogar, Elli sei vielleicht missbraucht worden. Johanna hatte schnell die Nase voll und versucht seitdem, ihre Tochter so zu nehmen, wie sie nun mal ist: aufgeweckt, selbstbewusst und unglaublich anstrengend.
»Was hast du denn gemacht, dass sie dich gebissen hat?«, will ich wissen.
»Ich habe etwas nicht gemacht«, antwortet Kai, »das war das Problem. Elli wollte, dass ich ihr zeige, wie ein Zungenkuss geht, und ich habe Nein gesagt.«
»Wow.« Ich muss lachen. »Sie geht ja ganz schön zur Sache mit ihren acht Jahren.«
»Sie hat ein Pärchen auf dem Schulhof knutschen sehen und wollte genau wissen, wie das ist mit den verknoteten Zungen. Ãbrigens: Meine Mutter hat Johanna versprochen, Elli in den Sommerferien für drei Wochen zu nehmen. Dabei hat sie gar keine Zeit, der Hofladen und ihr Garten halten sie total auf Trab. Also werde ich wohl oder übel den Job des Babysitters übernehmen müssen. Noch eine Dosis Elli â und das schon in sechs Wochen.« Er verdreht die Augen. »Ich fürchte, das überlebe ich nicht.«
Ich lasse mich neben ihm aufs Bett fallen. Um ihn ein wenig aufzuheitern und einen Teil meines schlechten Gewissens loszuwerden, sage ich: »Hey, wir kriegen das schon hin.«
»Wir? Ist das dein Ernst?« Er beugt sich über mich.
»Klar, ich lasse dich nicht hängen. Wir nehmen sie mit an den Badesee, dort kann sie sich im Wasser austoben und danach ist sie so geschafft, dass du den Rest des Tages deine Ruhe hast.«
»Kann ich nicht lieber so lange bei dir einziehen?«
»Du wirst deine armen Eltern doch mit der kleinen Hexe nicht alleine lassen.«
Kai küsst mich sehnsüchtig, seine Hand streichelt meine Wange. Es fühlt sich nicht mehr ganz so fremd an und für ein paar Sekunden bin ich geneigt, ihm von der Wölfin und dem Jungen im Wald zu erzählen. Mich zu offenbaren, ist verlockend. Ich müsste Kai nicht mehr anlügen und ich würde jemanden haben, mit dem ich über alles reden kann.
Erzähl es ihm, Jola, es ist der richtige Moment. Kai ist dein bester Freund, du vertraust ihm. Ich hole Luft, doch Kai verschlieÃt meinen Mund mit einem weiteren Kuss, seine Hand schiebt sich unter mein T-Shirt und der Moment ist vorüber.
Ich setze mich auf und er zieht seine Hand zurück. Ich berichte ihm von Shadowland und von Thomasâ Besuch. Als ich den blutigen Riss in Alinas Kleid erwähne, schaut er mich erstaunt an. »Davon haben sie mir nie etwas erzählt«, sage ich. »Das ist nicht fair. Sie war meine Freundin.«
»Hey«, Kai tätschelt meine Schulter. »Alina ist tot und wir haben es immer gewusst. Klar wollten deine Eltern nicht, dass du mit so einem furchtbaren Bild herumlaufen musst. Das Ganze war ja so schon
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