Isegrim
Dorf zog. Ich war siebzehn damals. Er hat Nachhilfeunterricht angeboten und etliche Kinder aus Altenwinkel und aus den Nachbardörfern sind zu ihm gekommen. Ulla auch, sie war vierzehn. Soweit ich weiÃ, hat es nie irgendwelche Vorkommnisse gegeben, nicht einmal andeutungsweise. Sievers war ein netter Mann und ich habe ihn gemocht.«
»Das ist das Problem«, sagt Thomas. »Man sieht und merkt es ihnen oftmals nicht an. Nicht in allen Mörderaugen flackert der Wahnsinn. Das Böse ist nie das, was es zu sein scheint.«
»Das ist wahr«, sagt Lotta. »Und es ist ja auch nichts mehr passiert, seit Sievers tot ist«, fügt sie mit nachdenklicher Stimme hinzu.
Einen Moment ist es still, dann höre ich, wie Thomas fragt: »Darf ich dich nach Hause fahren, meine Schöne?«
»Da sage ich nicht Nein«, wispert Lotta.
Türen klappen, ein Motor wird angelassen, der Wagen fährt davon. Ich kuschel mich in mein Bett, rolle das Kissen unter meinem Kopf zusammen und schlieÃe die Augen. Aber an Schlaf ist nicht zu denken. Ein unangenehmes dunkles Gefühl breitet sich in meinen Adern aus wie ein schleichendes Gift und ergreift Besitz von mir: Unsicherheit.
Was, wenn etwas dran ist an dem, was Tante Lotta gesagt hat? Was, wenn Martin Sievers Alina gar nicht getötet hat und der wahre Mörder noch da drauÃen herumläuft? Schnell schiebe ich diesen Gedanken von mir. Sievers hat Alina getötet und sich schlieÃlich selbst gerichtet, als ihm klar wurde, dass er den Rest seines Lebens im Gefängnis verbringen würde. So und nicht anders muss es gewesen sein. Ich will keine Angst haben müssen, wenn ich im Wald unterwegs bin, und ich will auch weiterhin mit offener Balkontür schlafen können. Es gibt keinen Grund, sich zu fürchten.
Oder doch?
Ich stehe noch einmal auf, kippe ein Fenster und schlieÃe die Balkontür.
11. Kapitel
A uf ins Schattenland! Nach dem Sonntagsessen machen wir uns auf den Weg nach Erfurt, um uns das amerikanische Schattentheater anzusehen. Für meine Mutter ist es eine groÃe Herausforderung: die Autofahrt, die vielen Menschen in der Messehalle. Aber als Shadowland beginnt, vergisst sie ihre Ãngste und ist völlig hin und weg. Pa lächelt mir verschwörerisch zu und ich spüre, dass er Ma noch immer liebt, dass er sie noch nicht aufgegeben hat. Das ist ein gutes Gefühl.
Nach der Show lädt Pa uns noch ins Paganini am Fischmarkt zum Abendessen ein. Nach dem zweiten Rotwein wird Ma ganz locker und ausgelassen und ich komme mir ein wenig überflüssig vor, so verliebt, wie die beiden turteln.
Auf der Heimfahrt stelle ich mein Handy wieder an, um nachzuschauen, ob ich irgendwelche Nachrichten habe. Drei SMS von Kai. Als ich sie aufrufen will, klingelt es.
»Hey, dein Handy war mal wieder ausgestellt. Sehen wir uns heute noch?«
Es ist nach neun, und um ehrlich zu sein, überfordert mich der Gedanke, Kai jetzt noch zu treffen und mir seine Berlinerlebnisse anzuhören. In meinem Kopf arbeitet es. Das Schattentheater hat deutlich gezeigt, dass das, was wir sehen, und das, was dahintersteckt, völlig verschiedene Dinge sind.
Erst jetzt wird mir klar, dass ich Kai überhaupt nicht vermisst habe in den drei Tagen, es ist einfach zu viel passiert. Meine Welt steht gerade kopf, und auch wenn ich ein schlechtes Gewissen bei dem Gedanken habe: Ich will nicht, dass Kai etwas davon mitbekommt. Besser, er meint, alles ist wie immer, sonst wird er Fragen stellen, die ich im Augenblick nicht beantworten kann.
Also gebe ich mir einen Ruck: »Ja, klar. Wir sind gerade auf dem Heimweg von Erfurt. Ich lasse mich bei dir absetzen. In zwanzig Minuten bin ich da.«
»Okay, dann bis gleich. Hab dich lieb.«
»Ich dich auch.«
Pa lässt mich vor dem Tor der Hartungs raus und ich verspreche meiner Mutter, nur kurz zu bleiben. Mit einem leisen Seufzer drücke ich den Finger auf die Klingel an der efeuumrankten Haustür.
Bianca Hartung öffnet, in ihren dunklen Locken die ersten grauen Strähnen. Sie schickt mich gleich nach oben. Wie immer bleibe ich kurz vor Kais Zimmertür stehen und amüsiere mich über seine Spruchkartensammlung. Seine Neuerwerbung lautet: Ich bin meiner fünf Sinne mächtig: Stumpfsinn, Schwachsinn, Wahnsinn, Irrsinn, Unsinn.
Blödsinn, ergänze ich in Gedanken. Kais sechster Sinn.
Ich klopfe und er ruft mich herein. Er ist dabei, seine Siebensachen
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