Isegrim
Wolf stehen vor der Tür. Du musst dich rechtzeitig mit dieser Tatsache auseinandersetzen. Oder hältst du es etwa auch mit den drei groÃen S der Jägerei, wie einige unserer Kollegen?«
Die drei groÃen S der Jägerei? Ich atme hörbar ein. Die drei groÃen S der Jägerei bedeuten SchieÃen, Schaufeln, Schweigen.
Eine Pause tritt ein.
Pa?
»Natürlich nicht«, erwidert mein Vater brüskiert, aber ich merke, wie er in Verteidigungsstellung geht.
»Was sind die drei groÃen S der Jägerei ? «, fragt Lotta und nimmt einen Schluck Rotwein.
Thomas erklärt es ihr. »So gehen einige Grünröcke also mit geschützten Tierarten um«, wendet sie sich angriffslustig an Pa.
Ãrgerlich schüttelt er den Kopf. »Das ist doch Schwachsinn! Willst du behaupten, dass alle Jäger potentielle Wolfsmörder sind?«
»Also, ich hätte keine ruhige Minute mehr, wenn ich wüsste, dass ein Wolf durch unseren Wald streift«, mischt Ma sich ein. »Märchengestalten gehören nicht ins wirkliche Leben.«
Mir entfährt ein genervter Laut, der glücklicherweise in der angeregten Diskussion untergeht. Wenn die wüssten! Der böse Wolf ist längst da und niemand hat ihn bemerkt, nicht einmal Pa. Offensichtlich hat Olek gute Arbeit geleistet.
»Also, mir gefällt der Gedanke, dass diese faszinierenden Tiere wieder in unsere Wälder zurückkehren«, bemerkt Lotta, die inzwischen einen leichten Schwips hat. »Bedeutet das nicht, dass es irgendwann wieder ein gesundes Gleichgewicht in unseren Wäldern geben wird? Der Wolf ersetzt den Jäger, er reguliert das Wild, tötet kranke und alte Tiere. Wölfe sind erstaunliche Wesen, habe ich gehört, sie sind viel sozialer als Menschen.«
»Die typische Ansicht einer Esoterikerin.« Pa verdreht die Augen und winkt ab.
Ma klatscht in die Hände: »Ach, Kinder, nun reitet doch nicht auf etwas herum, was vermutlich nie eintreffen wird. Jola und ich holen jetzt den Nachtisch und dann reden wir lieber über etwas Schönes.«
Später, als ich in der Küche den Geschirrspüler einräume und gerade beschlieÃe, mich zu verabschieden und schlafen zu gehen, dringt Thomasâ verhaltene Stimme an mein Ohr. Es geht um irgendein totes Mädchen, dessen Ãberreste er durch Zufall im Wald gefunden hat, und ich horche auf.
»Mein Hund hat die Knochen aufgestöbert, das ist jetzt vielleicht zwei Monate her. Wie sich am Ende herausstellte, war das Mädchen schon seit mehr als dreiÃig Jahren tot. Eine Fünfzehnjährige, die im Sommer 1980 verschwand. Alle dachten, sie wäre mit ihrem Freund, einem Italiener, abgehauen. Aber so war es nicht.«
Weil die Gefahr besteht, dass sie das Thema wechseln, wenn ich auftauche, bleibe ich hinter der Tür stehen und spitze die Ohren.
»Und wie ist sie gestorben?« Mas gepresste Stimme.
Falsches Thema, Thomas! Offensichtlich hat mein Vater seinem Freund nie etwas von der Angststörung meiner Mutter erzählt, deshalb kann Thomas nicht wissen, dass Geschichten von toten Mädchen in diesem Haus ein Tabuthema sind.
»Keine Ahnung«, antwortet er dementsprechend bereitwillig, »das konnten sie nicht mehr feststellen. Die Knochen waren von Tieren angenagt und lagen zu lange in der Erde.«
So viel zu: Reden wir lieber über etwas Schönes.
Betretenes Schweigen erfüllt den Raum, aber Thomas scheint das nicht zu bemerken. Ganz unbekümmert fragt er: »Gibt es eigentlich Neuigkeiten über das Mädchen, das hier bei euch verschwunden ist vor ein paar Jahren?«
Keine Antwort. Ich kann sehen, wie Pa den Kopf schüttelt. Er will nicht, dass über Alina geredet wird, weil er befürchtet, dass Ma depressiv wird und dann wieder tagelang ihr Zimmer nicht verlässt. Aber offensichtlich fällt ihm so schnell nicht ein, wie er seinen Freund stoppen kann.
»Wie lange ist das eigentlich her? Fünf Jahre? Oder sechs?«
»Im Oktober werden es fünf Jahre«, antwortet Lotta auf Thomasâ Frage. »Und nein, es gibt nichts Neues, man hat ihre Ãberreste noch immer nicht gefunden.«
»Na ja, solange man das Mädchen nicht gefunden hat, besteht immer noch Hoffnung. Vielleicht war ihr Altenwinkel zu langweilig und sie hat sich aus dem Staub gemacht.« Thomas scheint nun doch mitbekommen zu haben, dass die Stimmung zu kippen droht. Ein schlechter Versuch, das Thema
Weitere Kostenlose Bücher