Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Isenhart

Isenhart

Titel: Isenhart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Holger Karsten Schmidt
Vom Netzwerk:
am Eingang zu dem Krankenzimmer befand. Die Arme hingen locker herab, die ganze Gestalt befand sich nicht unter Spannung, Sigimund von Laurin stand einfach da. Und strahlte dabei eine Selbstverständlichkeit des Seins aus, die Isenhart trotz seines Dämmerzustands – oder gerade deswegen – tief beeindruckte. Ich überstehe nicht Steine noch Bäume, schien der ganze Mann auszudrücken, aber ich bin.
    Etwas an diesem Gedanken spendete Isenhart Trost.
    »Nein«, sagte Walther von Ascisberg, der Mann über ihm. Er betastete Isenharts Auge, die Linien verschoben sich, der Raum schrumpfte. Und dann sprang das Volumen zurück in den Raum und verursachte ihm starke Kopfschmerzen.
    »Wer …«, setzte Isenhart leise an.
    »Schweig«, befahl der Mann. Er sah tief in sein rechtes Auge, fuhr mit den Fingern erstaunlich sanft über das Lid. »Schließ das linke Auge.«
    Isenhart zögerte.
    »Das da«, sagte Walther von Ascisberg mit einer leichten Ungeduld in der Stimme und tippte mit dem Zeigefinger neben das Auge.
    Isenhart war beschämt, weil der Mann annehmen musste, dass erunfähig war, zwischen links und rechts zu unterscheiden. »Ich weiß«, antwortete er deshalb. Seine Stimme erschien ihm selbst schwach.
    »Ich weiß, dass du es weißt, und jetzt schließ das Auge.«
    Isenhart fügte sich. Aber er hatte Probleme, das Lid über den Augapfel gleiten zu lassen. Davon abgesehen war es ein Gefühl, als fahre rohes Fleisch über Sand.
    Der alte Mann führte ihm seine Hand vor Augen. »Wie weit ist der Abstand zwischen meiner Hand und meinem Gesicht?«, fragte er.
    »Eine Armeslänge.«
    Von Ascisberg nickte zufrieden. »Jetzt öffne das Auge wieder und schließ das andere.«
    Isenhart befolgte die Anweisung.
    »Ich will nicht, dass er stirbt«, sagte eines der Mädchen. Es war Anna.
    »Anna will Isenhart heiraten.« Das war Sophia.
    »Schweigt.« Die Mädchen verstummten, ihr Vater hatte gesprochen.
    »Und wie ist der Abstand jetzt?«
    »Da ist keiner«, antwortete Isenhart ebenso verblüfft wie erschrocken.
    »Auf einem Auge existiert nie ein Raum«, belehrte Walther ihn, »was du eine Armeslänge nennst, basiert auf Erfahrung und Annahme – nicht auf dem, was du siehst, denn mit einem Auge erscheint der Raum als Fläche. Also: Was siehst du jetzt?«
    Isenhart konzentrierte sich: »Ich sehe Flächen, die verwoben sind.«
    Von Ascisberg kniff die Augen zusammen, und Isenhart ahnte die Anstrengung des Mannes, seinen Worten etwas Greifbares zu entnehmen.
    Er sah zur Seite und entdeckte dort ein Flachrelief, das in das Mauergestein gehauen worden war. »So wie das«, sagte er schnell. Walther von Ascisberg warf erst dem Relief einen langen Blick zu, dann dem Jungen auf dem Lager.
    »Erblindet er?«, fragte der Fürst.
    »Nein, aber er nimmt den Raum jetzt anders wahr als wir«, antwortete von Ascisberg mit einer Gelassenheit in der Stimme, diedazu angetan war, Isenhart zu beruhigen. »Abstände und Maße wirken auf dem einen Auge für ihn anders.«
    »Kann er damit arbeiten?«, wollte Sigimund von Laurin wissen und trat an das Lager aus Stroh heran, auf dem Isenhart lag.
    Walther von Ascisberg sah zu ihm auf. »Er wird sich daran gewöhnen.«
    Es war Sophia gewesen, die seine Schreie gehört und in die Kammer des Pinkepanks getreten war, um unfreiwillige Zeugin eines Bildes zu werden, das sie noch jahrelang verfolgen sollte. Die blutige Fehlgeburt in den Armen der verängstigten Frau, der verdreckte Junge am Boden und dieses Auge, das selbst den tobenden Chlodio von dem Schlag abhielt, zu dem er gerade ausgeholt hatte.
    Isenhart war schon nicht mehr bei Bewusstsein. Die Wucht des letzten Fausthiebs gegen seine Schläfe hatte ihm das rechte Auge hinauskatapultiert. Es lag, nur durch die dünne Ader des Sehnervs mit ihm verbunden, eine Handbreit von seinem Kopf entfernt auf dem Boden.
    Von Ascisberg hatte ihm den Augapfel mit aller Behutsamkeit zurück in die Höhle gedrückt, wie Isenhart später erfuhr.
    Von da an spielten sich vor jedem seiner Augen verschiedene Dinge ab. Dem rechten Auge präsentierte sich die Welt als Relief. Anna, die er seit den zwei Tagen auf dem Krankenlager verehrte, warf ihm hin und wieder etwas zu, wenn ihre Wege sich kreuzten. Einen Stein, einen Stock, solche Dinge. Während der erste Stock ihn noch an der Stirn traf und er eine tiefere Verletzung wegen ihrer Geringschätzigkeit ihm gegenüber als wegen der Schramme empfand, die seine Stirn davontrug, begriff er sehr bald, dass es ihre Art war,

Weitere Kostenlose Bücher