Isis
die Tempelwerkstatt zu setzen, solange Kani dort das Regiment führte. Als der junge Stellvertreter jedoch in den südlichen Steinbrüchen einen schweren Unfall erlitt, der ihm die Beine zerquetschte, kehrte der Erste Bildhauer so selbstverständlich zurück, als seien seit seinem überstürzten Weggang nur Tage vergangen und nicht viele Monde. Noch wortkarger als früher, aber nicht minder zuverlässig, nahm er seine Tätigkeiten wieder auf, und die anderen Steinarbeiter, die den ehrgeizigen Kani nie besonders gemocht hatten, waren froh darüber. Selbst Schepenupet ließ sich von seinen Leistungen überzeugen, wenngleich sie sich eine gewisse Skepsis bewahrte. Was nicht zuletzt daran lag, dass Nezem schon am ersten Tag besondere Bedingungen für sich verlangte.
»Für deine Reisen musst du dir aber einen anderen suchen«, erklärte er ihr unverblümt. »Ich kann und werde Waset nicht mehr für längere Zeit verlassen.«
»Darf ich vielleicht den Grund erfahren?«
»Privatangelegenheiten«, erwiderte er schroff.
»Es gibt außer Kani eine ganze Menge talentierter Steinarbeiter, die dein Amt noch heute mit Freuden antreten würden«, sagte Schepenupet kühl. »Sieh dich vor! Ich mag es nicht, wenn man meine Geduld überstrapaziert.«
»Ich brauche meine Beine. Und ich habe bereits meine Frau verloren. Ich will nicht auch noch die Tochter verlieren.«
Nach kurzem Zögern willigte sie ein und bestellte einen anderen als künftigen Expeditionsleiter.
Khay dagegen, den Nezem mit in die Tempelwerkstatt genommen hatte, war zunächst begeistert. Aber auch unter dem Schutz des Tempeldaches war seine leidige Wartezeit noch nicht zu Ende. Zwar bekam er zum ersten Mal einen Meißel in die Hand, aber nicht, um ihn eigenständig in den Stein zu treiben, sondern nur, um die Linien nachzuziehen, die der Alte vorgezeichnet hatte.
»Nur so lernt dein Auge«, sagte Nezem. »Erst wenn du die Umrisse genügend vertieft hast, kannst du auch den Grund so wegschlagen, dass die Figuren plastisch wirken.« Er trat einen Schritt zurück und prüfte die Arbeit aus weiterer Entfernung. »Gar nicht so übel. Ich denke, Ende des Jahres kannst du dich eigenständig daran wagen.«
Aus Wut und Enttäuschung hätte Khay beinahe nach ihm getreten. Er hatte es satt, immer noch als unwissender Junge behandelt zu werden. Er besaß Talent, das merkte er spätestens dann, wenn er seine Zeichnungen mit denen der anderen verglich. Bei ihnen sahen die Pflanzen und Tiere auf den Übungsblättern oft steif und leblos aus, während seine Bäume, Reiher und Nilpferde belebt wirkten. Vielleicht war es diese Gewissheit, die ihn bewog, seinen Ärger hinunterzuschlucken und einfach weiterzumachen, damit ihm keine patzige Antwort entfuhr. Vielleicht war es aber auch die Sonderbehandlung, die Nezem ihm zuteil werden ließ, eine merkwürdige Mischung aus extremer Schroffheit, mit der er die anderen weitgehend verschonte, gepaart mit einzelnen Momenten überraschender Vertrautheit.
»Die Steine sprechen«, enthüllte er Khay eines Abends, als alle anderen schon gegangen waren.
»Ich weiß«, sagte Khay und drehte sich langsam zu seinem Lehrmeister um. »Aber man muss sehr leise sein, um sie zu verstehen. Und selbst dann gelingt es nicht immer.«
»Du kannst sie hören?« Von oben bis unten mit Gesteinsstaub bedeckt, baute Nezem sich vor ihm auf. Es war einer jener heiklen Tage, wo man ihm den fehlenden Schlaf ansah und ihn etwas Dunkles, Bedrohliches zu umgeben schien.
»Das glaube ich nicht. Du lügst.«
»Ich lüge nicht.« Khay hielt dem bohrenden Blick stand.
»Was ich dir sage, ist nichts als die Wahrheit. Und das, wie du weißt, nicht zum ersten Mal.«
Weder Nezem noch er waren jemals auf jenen unglückseligen Abend zurückgekommen, der Selenes Tod zur Folge gehabt hatte. Sie mussten nicht darüber reden. Die Erinnerung war auch so stets zwischen ihnen gegenwärtig.
»Du bist anders als die anderen.« Nezem wandte sich wieder seiner halb fertigen Skulptur zu. »Von ihnen versteht keiner diese Sprache. Deshalb sind sie in meinen Augen auch nichts als ein Haufen gewissenhafter Dilettanten.«
»Und ich?«
»Auf jeden Fall musst du noch sehr viel lernen.«
»Bist du deshalb immer so grob zu mir?«
»Wenn du dir Mühe gibst, kannst du es vielleicht in dem Handwerk zu etwas bringen. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob dein Atem dazu ausreicht.«
»Ich kann ausgesprochen hartnäckig sein. Und ich liebe die Steine.«
»Und schweigen? Kannst du das
Weitere Kostenlose Bücher