Isis
IsisPriesterschaft, die nach langen internen Auseinandersetzungen schließlich die Erlaubnis dazu erteilt hatte, empfing Meret die Besucher in einer eigens dafür errichteten Lehmhütte unmittelbar neben dem Quai.
Es war ein kleiner, ganz schlicht gehaltener Raum, den eine vergitterte Wand unterteilte, weil die Heilsuchenden sonst manchmal zu aufdringlich waren. Außerdem verbarg das Gitter Merets Gesicht und ihre Gestalt. Nicht einmal ihre ungewöhnlich dunkle Stimme hätte darauf schließen lassen, dass die berühmte Seherin noch sehr jung war.
Meret musste die Menschen nicht berühren. In der Regel reichte es, die Anwesenheit der Fragenden auf sich wirken zu lassen. Meist hielt sie die Augen dabei geschlossen, um sich ganz dem Strom der Bilder zu überlassen, die ihr nun keine Angst mehr einflößten. Trotzdem quälte sie immer öfter die Frage, wie sie mit dem umgehen solle, was sie ihr zeigten.
»Wie kann ich ihnen das geben, was sie von mir wünschen?«, fragte sie Sanna. Wenn der letzte Besucher die Insel verlassen hatte, fühlte sie sich oft ausgelaugt. Sie hatte sich angewöhnt, in Sannas Haus Zwischenstation zu machen, bevor sie zu Ruza zurückkehrte, die schon seit längerem kränkelte und oft in seltsame Stimmungen verfiel. »Ich kann doch einer Frau nicht sagen, dass ihr Kind sterben wird. Oder dass ihr Mann nie mehr zu ihr zurückkommt.«
»Du bist nicht dazu da, um ihre Erwartungen zu erfüllen«, erwiderte Sanna energisch. »Dein Geschenk stammt von Isis selbst. Sie ermöglicht dir, hinter den Schleier zu schauen, der Gestern und Morgen trennt.«
»Aber bin ich nicht verpflichtet, ihnen die Wahrheit mitzuteilen, wenn ich sie sehen kann?«
Es war drückend in Sannas niedrigem Zimmer, das die Sonnenglut des langen Tages gespeichert hatte, aber die Schwüle war nicht das Einzige, was sie beide unruhig machte. Meret stand auf und goss sich Wasser ein. Inzwischen war sie so groß, dass sie auf Sannas Scheitel herabsah. Es rührte sie an, silberne Fäden in dem Schwarz aufblitzen zu sehen. Die Priesterin war ihr immer so jung, ja fast mädchenhaft erschienen. Jetzt aber hatte sie selbst beinahe jenes Alter erreicht, das Sanna bei ihrer ersten Begegnung gehabt hatte. Die Priesterin ließ sich Zeit mit ihrer Antwort.
»Je älter ich werde, desto mehr scheint mir, dass das Muster der künftigen Ereignisse schon lange festliegt«, sagte sie schließlich. »Die Menschen bewegen sich ihnen entgegen, mal schneller, dann wieder langsamer. Deine Gabe ermöglicht dir zu erkennen, wohin die Richtung geht.«
»Welchen Sinn macht es dann, sie zu warnen oder aufzuklären, wenn es ohnehin ihr Geschick ist, auf das sie unaufhaltsam zusteuern?«
»Vielleicht hilfst du ihnen ja, vorsichtiger zu reagieren. Manche könnten durch deinen Rat einem Schicksalschlag ausweichen, ihn abmildern oder sich wenigstens auf ihn einstellen.«
»Und wenn sie es nicht tun?« Behutsam berührte Meret Sannas Hand, und dieses Mal zog die Priesterin sie nicht zurück. »Wenn sie nicht hören und sehen wollen?«
»Du kannst ihnen ein Angebot machen«, sagte Sanna, die auf einmal schneller atmete. »Was schon sehr viel ist. Und überhaupt sollte sich jeder, der dir begegnen darf, glücklich schätzen.« Sie lächelte. »Selbst wenn es nur durch ein grobes Lehmgitter ist.«
Meret zog Sannas Finger an ihre Lippen. »Und du? Was ist mit dir?« Zu ihrem Erstaunen hatte sie endlich in Worte gefasst, was schon so lange in ihr rumorte. Sie war kein Kind mehr. Aber was war sie dann? Wenn es jemanden auf der Insel gab, der ihr dabei helfen konnte, das herauszufinden, dann Sanna. »Was ist zwischen uns?«, fuhr sie mutiger fort.
»Freundschaft«, sagte Sanna eine Spur zu schnell. »Das weißt du doch!«
»Freundschaft«, wiederholte Meret enttäuscht und ließ die Hand sinken. »Früher hast du gesagt, dass du mich liebst. Ist es, weil du wieder zu Usha zurück willst?«
»Meret, bitte!« Die Priesterin wandte sich ab. »Lass uns vernünftig sein! Das mit Usha ist endgültig vorbei. Und du bist schon lange nicht mehr die Kleine an der Hand ihrer Mutter.«
»Ich weiß. Aber wer bin ich dann?«
»Du bist, die du bist.«
»Ist es, weil ich ...« Merets Stimme wurde brüchig. »Weil ich nicht den Mondfluss mit dir teile? Und weil ich niemals ein Kind empfangen werde?«
»Nein«, sagte Sanna. »Bei den Fragen, die dich quälen, geht es um dich. Du hast Dinge gesehen in deinen jungen Jahren, die für viele, viele Leben reichen. Über kurz oder
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