Isis
Frau musterten sie aufmerksam. »Geht es dir nicht gut? Bist du vielleicht krank?«
»Ich bin nicht krank, und ich freue mich, dass ich eine so kluge Tochter habe.« Schepenupets Lächeln wurde tiefer.
»Du hast Recht. Es ist ein Abschied.« Sie nahm eine andere Papyrusrolle, die sie zuvor ein Stück beiseite geschoben hatte, in die Hand. »Die Tinte ist eben getrocknet. Den ganzen Nachmittag bin ich daran gesessen. Soll ich dir etwas verraten? Beim Opet-Fest werden wir beide den Pharao mit einer Neuigkeit überraschen, die ihn sehr glücklich machen wird.«
»Welche Neuigkeit? Wovon redest du?«
»All die Jahre bin ich gern die Gemahlin des Unsichtbaren gewesen. Mit ganzem Herzen habe ich Amun gedient, auch wenn ich mir mein Leben anfangs ganz anders vorgestellt hatte.« Schepenupet hielt kurz inne.
»Montemhet«, sagte Nitokris. »Du hast ihn heimlich geliebt.«
Schepenupet lachte schallend. »Du weißt es also auch schon?
Eine schöne heimliche Liebe, wenn es inzwischen schon die Spatzen von den Dächern pfeifen! Aber es stimmt. Als ich sehr jung war, träumte ich davon, seine Frau zu werden.
Dann jedoch kam meine Entscheidung für Amun. Und jetzt bist du an der Reihe, Tochter.«
»Soll das heißen ...« Nitokris starrte sie ungläubig an.
». dass ich mein Amt an dich übergebe. Ich könnte mir keine würdigere Nachfolgerin vorstellen. Jetzt schau mich nicht so erschrocken an, Nitokris! Alles, was ich weiß, habe ich dir längst beigebracht.« Ihr Lächeln erstarb. »Aber es gibt noch andere, traurige Gründe. Ich musste erleben, wie Amenardis vor meinen Augen starb. Und ich habe den Tod selbst zu kosten bekommen. Bevor ich seine Schwingen abermals spüre, soll mein Haus bestellt sein.«
»Aber du bist doch noch nicht alt! Und inzwischen wieder ganz gesund. Du wirst nicht sterben.« Ungestüm umarmte Nitokris sie. »Du darfst mich nicht allein lassen!«
»Eines Tages werde ich es tun müssen«, sagte Schepenupet.
»Und allein bist du nicht. Der Unsichtbare, dein göttlicher Gemahl, ist immer bei dir.«
»Ich will dieses Amt nicht — nicht, wenn du ...« Nitokris begann zu weinen.
Schepenupet nahm sie in die Arme und wiegte sie sanft.
»So groß und noch so klein!«, sagte sie leise. »Du musst keine Angst haben! Ich weiß genau, du wirst alles sehr gut machen.«
»Nein«, sagte Nitokris, »ich habe keine Angst. Es ist doch nur, weil ich dich .«
»Ich weiß«, sagte Schepenupet, »ich weiß.« Das Schluchzen wurde leiser. Schließlich brachte Nitokris sogar ein zaghaftes Lächeln zustande. »So ist es schon viel besser. Außerdem will ich dich noch um etwas bitten.«
»Alles, was du willst!«
»Behalte unser Gespräch für dich! Psammetich weiß bereits Bescheid. Die anderen im Tempel aber«, ihr Mund verzog sich zu einem fröhlichen, fast mädchenhaften Grinsen, »wollen wir ruhig noch ein bisschen zappeln lassen. Ich finde, sie haben nichts Besseres verdient.«
oooo
Ein Trupp Medjai brachte den Toten am anderen Morgen nach Hause. Die Männer wunderten sich, als sie das Haus zugesperrt fanden und auf ihr Klopfen hin von innen eine müde Mädchenstimme ertönte.
»Er hat mich eingesperrt. Ich kann nicht raus.«
»Aufbrechen!«, ordnete der Hauptmann an, der den Transport überwacht hatte. Mit Hilfe eines Stemmeisens verschafften sie sich Zutritt.
Isis kam ihnen sofort entgegen. »Was ist geschehen?« Sie wurde noch blasser, als sie den Toten auf der Bahre sah.
»Vater? Das kann nicht sein!«
»Leider doch«, sagte der Hauptmann. »Offenbar eine Rauferei in einer Taverne. Plötzlich muss ein Messer ins Spiel gekommen sein. Er hat jedenfalls einen Stich in den Bauch abgekommen. Allerdings war er da vermutlich stockbetrunken.«
»Mein Vater hat Tavernen gehasst.«
»Zeugen sagen, er sei irgendwann hereingetorkelt. Wir konnten ihn nicht mehr danach fragen. Jedenfalls begann er nachts in der Zelle zu schreien. Zwei Wachhabende sind sofort zu ihm gegangen. Aber es war zu spät. Sie konnten ihm nicht mehr helfen. Vor ihren Augen ist er verblutet.«
»Verblutet«, wiederholte Isis tonlos. »Aber wieso steckte mein Vater überhaupt in einer Zelle?«
»Dein Vater hat vor dem Haus des Ersten Baumeisters randaliert und Morddrohungen ausgestoßen. Zum Glück hat er Basa nicht angetroffen. Aber er wollte nicht gehen. Der glatzköpfige Diener hat uns schließlich geholt. Als wir anrückten, war dein Vater jedoch längst verschwunden. Erst in der Taverne konnten wir ihn schließlich
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