Isis
glitzernd vor Zorn. »Dabei bist du gewiss auch wie alle anderen.«
»Woher kennst du mich?«, fragte Meret, die einen Schritt zurücktrat.
Er starrte sie einen Augenblick lang an, und sie hoffte, er würde es ihr endlich sagen. Aber Khay fuhr sich mit der Hand über die Augen und schüttelte heftig den Kopf.
»Keine Ahnung. Wollte dich sicher nur anmachen, ihr fallt doch gerne auf den ersten Besten rein! Nur mein kleiner Bruder hat da andere Methoden sich bei den Weibern einzuschleichen.« Sein Blick schien etwas Irres zu bekommen, er stierte an Meret vorbei. »Aber das wird ihm auch nichts nützen.«
»Du willst ihn umbringen«, sagte Meret plötzlich. »Du hast vor, Anu zu töten.«
»Woher weißt du das?« Khay machte Anstalten, sich auf sie zu stürzen. »Wer hat dir das erzählt?«
Langsam wich Meret zurück. »Ich sehe es in deinen Augen«, sagte sie. »Und in deinem Herzen. Aber das darfst du nicht!
Brudermord ist ein schreckliches Verbrechen — das schrecklichste von allen.«
»Misch dich nicht in Angelegenheiten, die dich nichts angehen!« Der dunkle Bartschatten ließ Khays Gesicht schmäler wirken. »Was weißt du schon von Verbrechen?«
»Ich bitte dich, Khay: Lass Anu in Frieden! Du darfst ihn nicht töten! Ihr seid doch Brüder! Das gleiche Blut verbindet euch.«
»Brüder? Tiere sind wir, denn wir alle müssen sterben. Und jeden Tag werden die Schatten länger. Fürchtest du dich nicht? Ich fürchte mich manchmal.«
Die letzte Gelegenheit, ihn doch noch zur Umkehr zu bewegen - Meret spürte es ganz deutlich. Wenn sie jetzt das richtige Wort fand, den richtigen Satz! Aber ihr Kopf war auf einmal ganz leer, die Zunge wie gelähmt. Khay schien wie aus einem Traum zu erwachen, wieder ganz der Alte, misstrauisch, aggressiv. »Und wer sollte mich daran hindern? Du vielleicht? Eine Frau, die nicht einmal weiß, wer sie eigentlich ist? Dass ich nicht lache!«
»Ich werde mit Anu reden.« Meret suchte verzweifelt nach Argumenten. »Ich sage ihm, was du vorhast.«
»Tu das ruhig! Aber wird er dir auch glauben?« Wie ein selbstverliebter Tänzer drehte er sich um die eigene Achse.
»Anu wird es nicht, das garantiere ich dir!«
»Dann spreche ich mit Isis. Wir werden auf jeden Fall alles unternehmen, um ein scheußliches Verbrechen zu verhindern!«
»Und du willst eine Seherin sein?«, höhnte er. »Nichts als eine billige Betrügerin bist du!«
Meret spürte, wie alle Kraft aus ihrem Körper wich. Hatte er etwas über sie in Erfahrung gebracht? Sie zwang sich zur Beherrschung. Khay bluffte. Er wusste nichts. Niemand konnte ihm etwas über sie verraten haben. »Weshalb?«, sagte sie, äußerlich ruhig.
»Weil du sonst wissen würdest, dass Anu sterben wird. Den Tag seiner Hochzeit überlebt er nicht. Isis wird Witwe, bevor sie Gelegenheit hat, das Brautbett zu besteigen.«
Wie von Sinnen lief Khay hinaus.
oooo
Das Flattern der Segel. Knarzendes Holz. Leises Glucksen, sobald die Ruder eintauchten. Die Jubelschreie der Menschen. Wenn Schepenupet die Augen schloss, hörte sie bereits all die Geräusche, die für sie seit jeher mit dem Opet-Fest verknüpft waren.
Morgen würden die Kultstatuen eingeschifft. Vier mit Blumen geschmückte Barken brachten die Götterbilder Amuns, seiner Gattin Mut, des Sohnes Chons und Pharao Psammetichs nilaufwärts. Soldaten, Musiker, Tänzer, Frauen und Kinder begleiteten den Zug, wenn die Heiligtümer an Land gebracht und die lange Allee aus widderköpfigen Sphingen entlang getragen wurden, um schließlich wieder hinter Tempelmauern zu verschwinden.
In der Mitte der Überschwemmungszeit war die Ausgelassenheit immer am größten, wenngleich die diesjährige Nil-Flut alle Erwartungen aufs Neue enttäuscht hatte. Vielleicht sehnten sich deshalb alle so sehr nach Fröhlichkeit, um wenigstens für kurze Zeit zu vergessen, dass die Ernte wieder zu gering ausfallen würde. Es gab mehr Bettler in Waset als je zuvor; ärmere Familien lebten nur noch von Brot, Zwiebeln und Bier.
Man sah es an den aufgetriebenen Bäuchen der Kinder, die in seltsamem Gegensatz zu den dünnen Beinchen standen.
Das war einer der Punkte, die Schepenupet unbedingt mit Psammetich besprechen wollte. Der Hohepriester Horachbit hatte sich bislang geweigert, die Notspeicher zu öffnen, was ihrer Meinung nach schon längst angestanden hätte. Sie war gespannt auf Horachbits erstauntes Gesicht, denn bislang wusste außer Nitokris und ihr niemand, dass der Pharao gegen Mittag im Hafen
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