Isis
festnehmen.«
»Iucha«, flüsterte Isis unter Tränen, »der Kahle! Hat er meinen Vater auf dem Gewissen?«
»Wie kommst du zu dieser Annahme?«
»Ich glaube, die beiden kannten sich ganz gut. Auch wenn keiner von beiden es zugeben wollte.«
»Was meinst du damit?«
Statt zu antworten ging Isis zur Bahre. Als sie sich über Nezem beugte, fielen ihre Tränen nicht auf das Gesicht eines friedlichen Toten. In seinen Zügen standen vielmehr Angst und eine so tiefe Verlassenheit, dass sie sich abwenden musste.
»Verzeih mir!«, sagte sie leise. »Ich hätte nicht so mit dir reden dürfen, Papa. Aber ich konnte nicht anders. Ich musste doch endlich wissen, woran ich bin.«
Der Hauptmann war ihr gefolgt. »Wenn du etwas über einen Streit weißt, musst du es uns unbedingt sagen.« Seine Stimme war kühl. »Jeder, der wichtige Hinweise unterschlägt, macht sich strafbar.«
»Aber ich weiß doch gar nichts!«, sagte Isis, plötzlich viel vorsichtiger. Sie wischte die Tränen weg. »Das letzte Mal, als ich die beiden zusammen gesehen habe, war ich noch ein halbes Kind. So lange liegt das zurück.«
»Du kannst in große Schwierigkeiten kommen, wenn du etwas verheimlichst«, beharrte er.
»Mein Vater ist tot!« Jetzt schrie sie beinahe, und die Wut, die sie auf einmal spürte, verlieh ihr ungeahnte Kraft. »Kann ich jetzt endlich in Frieden von ihm Abschied nehmen?«
Sie ließ gerade noch zu, dass die Medjai den Toten ins Haus trugen. Dann gingen sie. Mit einem Hocker, den sie vor die aufgebrochene Tür stellte, schloss sie das Haus hinter ihnen.
Jetzt erst holte sie die geflügelte Statue und bettete sie in Nezems Arme.
»Ihr beiden seid jetzt wieder vereint.« Sie weinte bitterlich.
»Keiner kann euch mehr trennen. Aber was ist mit mir?«
Bevor der junge Steinmetz zu ihr kam, verspürte Meret große Unruhe. Das kleine blaue Haus, das früher einen Wab-Priester beherbergt hatte und ihr von Schepenupet auf unbestimmte Zeit überlassen worden war, kam ihr auf einmal wie ein Gefängnis vor. Sie schritt auf und ab, rückte hier ein Öllämpchen zurecht, dort einen Becher. Immer wieder flog ihr Blick über die spärliche Einrichtung, aber sie entdeckte nichts, mit dem sie sich noch hätte ablenken können.
Als es schließlich klopfte, war es so spät geworden, dass sie halb eingeschlummert war. Schlaftrunken ging sie zur Tür.
»Nezem ist tot«, rief Khay beim Hereinkommen. »Irgendjemand hat ihm ein Messer in den Bauch gerammt.«
»Der Erste Bildhauer?«
»Isis’ Vater, ja, mein Lehrmeister, dessen Format ich nie erreichen werde. In keinerlei Hinsicht.« Khay war betrunken, sie roch es an seinem Atem und sah es an seinen Bewegungen.
»Ich war bei ihr, sofort nachdem ich davon gehört hatte. Ich wollte ihr Hilfe anbieten und Silber, damit sie ihm wenigstens ein schönes Grab bereiten kann. Aber Isis will mein Silber nicht. Und meine Hilfe. Gar nichts will sie von mir!«
Er schwankte derart, dass Meret unwillkürlich die Hände ausstreckte, um ihn zu stützen. Schließlich gelang es ihr, ihn auf einen Schemel zu schieben. Im Sitzen wiegte er sich wie ein Kind hin und her.
»Willst du nicht lieber nach Hause gehen und dich erst einmal gründlich ausschlafen?«, fragte sie.
»Ich habe kein Zuhause mehr. Ich habe nichts mehr, verstehst du, jetzt, wo Nezem tot ist. Nicht einmal mehr das Abenteuer, das mich noch ablenken könnte. Aber wie solltest du das auch verstehen, wo doch keiner mich versteht!«
»Ich glaube, ich verstehe dich ganz gut«, sagte Meret vorsichtig. »Du fühlst dich verletzt und allein gelassen. Und du bist sehr traurig.«
»Traurig? Wütend bin ich! Sie will ausgerechnet ihn heiraten, meinen verdammten kleinen Bruder. Isis will Anu heiraten! Aber wenn sie schon mich nicht will, ihn soll sie auch nicht kriegen.«
»Anu ist dein Bruder? Und Isis die Frau, die dich zurückgewiesen hat?«
»Genau so ist es«, sagte er dumpf. »Aber mich weist keine Frau zurück. Ich weiß nämlich, was die Frauen wirklich wollen. Sie wollen doch alle nur das eine.«
»Sicher irrst du dich da.« Meret legte zögernd die Hand auf seinen Kopf. »Wenn du das glaubst, musst du noch sehr viel über Frauen lernen, Khay.«
Zu ihrem Erstaunen schüttelte er ihre Hand nicht gleich ab.
»Vielleicht bist du anders,« murmelte er in sich hinein. »Ich weiß nicht, warum ich gerade dir das alles erzähle. Bei dir war es vom ersten Augenblick an anders.« Er hielt inne, nur um gleich darauf abrupt hochzufahren, die Augen
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