Isländisch Roulette: Thriller (German Edition)
küsst seine schlafende Frau liebevoll auf die Wange und schleicht leise hinaus. So früh am Morgen braucht er nur fünf Minuten, um hinunter zum Polizeirevier an der Hverfisgata zu fahren.
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Reykjavík, Dienstag, 3. Januar 2006
Scheißlohn!, denkt Jón Þorbergur, Börsenmakler von Landsbanki, als er auf die Verbindungsbrücke über Hafnarstræti blickt, die das Hauptgebäude des Geldinstituts und das Gebäude, in dem er arbeitet, hoch über der darunter liegenden Straße miteinander verbindet. Das ist ein Scheißlohn hier. Verdammt, bin ich es leid, in dieser Bank für einen totalen Scheißlohn zu arbeiten.
An Jón Þorbergur fällt vor allem seine Nase auf. Er ist feingliedrig gebaut, groß und schlank, aber seine Nase ist erstaunlich groß geraten, beinah wie eine übergroße Extremität. In jüngeren Jahren bekam er das häufig zu spüren, musste mit Spitznamen wie Nonni Nasenaffe, Die Nase oder Nonni Riesennase leben. Heute ist ihm die Größe seiner Nase völlig egal. Frauen haben sich nie sonderlich für ihn interessiert, aber auch das ist ihm egal. Seine Interessen liegen anderswo.
Er hat nun bei der Bank seit fünf Jahren Emissionspapiere für alle möglichen unterschiedlich raffiniertenUnternehmen erstellt und verkauft und zwischendurch Staatsanleihen hin und her geschaufelt. Die letzten Monate ist es ihm unerträglich auf die Nerven gegangen, dass er Geld für andere scheffelte statt für sich selbst. Jón Þorbergur ist das beste Pferd der Abteilung und hat in den letzten drei Jahren innerhalb der Bank den meisten Gewinn erwirtschaftet. Das hat sich nach seiner Ansicht jedoch nicht angemessen in der Lohntüte niedergeschlagen, im letzten Jahr waren es nur 6,8 Millionen monatlich. Scheißlohn. Schon seit längerer Zeit schielt er neidisch auf jene, die die ausländischen Hedgefonds leiten. Seine größten Idole dort sind John Poulson, James Simons und Edward S. Lambert. Diese Gentlemen hatten im letzten Jahr ein Jahresgehalt von einer Milliarde Dollar.
Das
ist richtiges Geld! Dabei wird gerade eine Idee geboren. Eine Idee, die ihn noch zu einem der reichsten Männer auf Island machen wird. Zuerst muss er allerdings zwei alte Schulkameraden aus dem Wirtschaftsgymnasium überzeugen, mit ihm zu kooperieren. Er will einen Hedgefonds in Luxemburg gründen, der auf Island investiert. Die entsprechenden Kontakte und Informationen hat er, um alle auf dem isländischen Markt verrückt zu machen. Erst auf Island und dann in der ganzen Welt. Sie haben das Kapital, er den Verstand. Er muss das Risiko eingehen, an sich selbst glauben.
Etwas später am gleichen Tag betritt er entschlossenenSchrittes das Büro seines Abteilungsleiters mit einem Kündigungsschreiben in der Hand.
»Ich kündige fristlos und mit sofortiger Wirkung. Zahl mir meinen Zulagenanteil und meinen Resturlaub aus, und die Sache ist erledigt«, sagt er laut und deutlich.
Der Abteilungsleiter blickt ihn an.
»Bist du endlich völlig verrückt geworden?«
»Nein, ich weiß genau, was ich tue. Ich werde hier keine Minute länger rumhocken, um für euch Geld zu machen.«
»Bist du dir da ganz sicher, mein lieber Jón? Wir möchten dich gern bei uns behalten, denn du bist hier unser tragender Mann.«
»Ganz sicher. Ich will aufhören, jetzt.«
»Es ist deine Sache. Dann ist es hier zu Ende. Dir ist bekannt, dass du kein Anrecht auf Zulagen hast, wenn du kündigst«, sagt der Abteilungsleiter und nimmt das Kündigungsschreiben entgegen.
»Ist mir völlig egal. Danke für die Zusammenarbeit.«
»Gleichfalls.«
Jón Þorbergur verlässt das Bankhaus. Ein starker Wind empfängt ihn, als er die Tür öffnet. Aber er bemerkt es nicht einmal. Ein Gefühl der Wonne durchströmt ihn. Er streckt die Arme hoch in die Luft.
»Free at last«, ruft er und hüpft vor Freude. »Jetztheißt es entweder Weltherrschaft oder Tod.« Er betrachtet immer wieder sein Spiegelbild in den Schaufenstern, als er sich auf den Nachhauseweg zu seinem Einfamilienhaus in der Innenstadt macht. Sein Telefon klingelt. Er schaut aufs Display. Der Bankdirektor. Er drückt auf die rote Taste und steckt das Handy mit einem Grinsen auf den Lippen zurück in die Tasche.
London, Donnerstag, 2. März 2006
»Jetzt können diese Jungs sehen, dass ich ein echter Typ bin und nicht so ein verdammter Drop-out aus dem Wirtschaftsgym«, denkt Steinn Þorri Steinþórsson am Fenster der Infinity-Suite des Langham-Hotels in London. Er blickt direkt auf eine alte Kirche,
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