Isle of Night Bd. 1 - Die Wächter
murmelte ich. »Sag bloß, du bist auch ein Naturtalent im Tresorknacken?«
Yasuo zog nur vielsagend die Augenbrauen hoch. Ich biss mir auf die Lippen, um nicht laut loszulachen. Freundschaften schließen – okay. Aber gleich am ersten Tag auf der schwarzen Liste des Lehrers zu landen, war keine so gute Idee.
Judge trat wieder vor die Klasse. Er stützte sich lässig an der Schreibtischkante ab und verschränkte die Arme. »Ich verspreche euch eines: Noch vor Ende der heutigen Vorlesung werdet ihr in der Lage sein, euer Schloss nur mit den Hilfsmitteln zu öffnen, die ich an euch verteilt habe.«
Schwimmen, pah! Ich sollte ein Vorhängeschloss mit einer Cola-Dose und einem Steak-Messer aufkriegen? Schon bei dem Gedanken wurde mir schwindlig.
Ich machte mich daran, die leere Dose zu zerlegen, und schob die Frage beiseite, wofür ich diese Fertigkeit wohl erlernen musste. Aber wenn ich die Monster im Dunkel außer Acht ließ, die hinterhältigen Mädels, die Peitschen schwingenden Eingeweihten und das viele Blut, dann konnte ich mich durchaus an diesen Ort gewöhnen.
Ich stand auf den Stufen der Turnhalle. Ich konnte das schaffen. Mein erster Unterrichtstag ging auf zwei Uhr zu, und schon wusste ich, wie man ein Vorhängeschloss aufkriegte, eine Tür ohne Schlüssel öffnete und den Code eines Master-Nummernschlosses knackte.
Ich hatte sogar Anschluss gefunden. Nach der Vorlesung gingen Yasuo und ich gemeinsam in den Speisesaal. Und das Mittagessen war gar nicht so schlecht – eine sämige Fischsuppe, die nicht gerade einladend aussah, aber lecker schmeckte. Zugegeben, Yasuo verursachte mir kein Herzklopfen und kein Bauchkribbeln wie Ronan, aber bei ihm konnte ich sicher sein, dass er keine magischen Kräfte einsetzte, um mein Denken zu beeinflussen.
Nach dem Schock so vieler positiver Erlebnisse würde mich der Sport nun wohl auf den Boden der Tatsachen zurückholen.
Die Frage war, was ich mir unter Fitness vorzustellen hatte. Wahrscheinlich eine Art »Biggest-Loser«-Show. Rumhüpfen und die blödesten Übungen mit Thera-Bändern und Medizinbällen machen, während irgendwelche Experten schmutzige Bemerkungen über meine Kernmuskulatur vom Stapel ließen.
Ich nahm die Stufen im Laufschritt, bevor ich ins Wanken geraten und die Flucht ergreifen konnte. Da ich der Ansicht war, dass diese Vampire einen erlesenen, im Lauf der Jahrhunderte verfeinerten Geschmack besaßen, erwartete ich ein Sport- und Gesundheitszentrum mit allen Hightech-Schikanen. Damit lag ich allerdings völlig falsch. Was ich vor mir sah, war eine Art altmodische Boxhalle. In Russland.
Feuchte Wärme und der Geruch nach altem Schweiß empfingen mich. In einer Ecke waren blaue Matten zu einem Turm gestapelt. Ausgebleichte Seile hingen von der Decke, entlang der Wände erhoben sich bedrohlich graue Leitern und Recks, und mitten im Saal lag, wie konnte es anders sein, eine dicke Kampfsport-Matte.
Ich rieb mir die Stirn. Die Umhängetasche rutschte mir von der Schulter und landete mit einem lauten Knall auf dem Boden. »Scheiße!«
»Vorsicht, Annelise!« Die Stimme kannte ich. Sie brachte jede Zelle meines Körpers blitzartig in Habachtstellung. »Die Vampire haben Flüche nicht so gern.«
Gottverdammte Scheiße im Quadrat! Was machte der denn hier?
»Ronan.« Mit einem flauen Gefühl im Magen drehte ich mich um. Das mit dem Schwimmunterricht war eigentlich krass genug. Wollte er mich nun unbedingt auch noch in der Turnhose rumzappeln sehen?
»Ab jetzt Sucher Ronan.«
Die Fischsuppe drohte mir hochzukommen. Ich hatte geglaubt, Ronan und ich wären uns nähergekommen. Ein wenig zumindest. Er hatte Amanda gebeten, mir beizustehen. Er hatte sehr eindringlich geklungen, als er mich beschwor, ihm zu vertrauen. Es war mir nicht abwegig erschienen, Freundschaft mit ihm zu schließen. Mein Wohlergehen schien ihm nicht völlig gleichgültig zu sein.
Aber wahrscheinlich ging es ihm nur darum, das von ihm ausgesuchte Mädchen zum Erfolg zu führen. Vielleicht kriegten Sucher so was wie Bonuspunkte, wenn die Acari, die sie rekrutiert hatten, Spitzenleistungen erbrachten. Der Gedanke machte mich trauriger, als ich vermutet hätte.
Er schien zu begreifen, in welche Richtung meine Überlegungen liefen. »Ich bin jetzt dein Lehrer. Wir müssen die Form wahren.«
Ich warf einen Blick zu den Mädels hinüber, die sich an den Tribünen versammelt hatten. Einige trugen bereits die marineblauen Trikots und Shorts, die zu unserer Standardausrüstung
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