Isle of Night Bd. 1 - Die Wächter
Typen vergrätzten. Ich hielt den Atem an und wartete darauf, dass er die Dumpfbacke massakrierte.
Aber Judge überraschte mich mit einem verständnisvollen Lächeln. »Ihr fragt euch sicher, was genau diese Phänomenologie beinhaltet.«
Ich schwöre, dass ein kollektives Aufatmen durch den Hörsaal ging.
»Betrachtet den Begriff ganz einfach als ein etwas hochgestochenes Wort für Naturwissenschaften. Vampire sind eine uralte Rasse, die nur deshalb überleben – und gedeihen – konnte, weil sie mit der modernen Technik Schritt hielt. Computer, Forensik, Sprengstoffe. Wir werden uns mit all diesen Themen befassen.«
Ich vergaß die Mädels und Jungs hinter mir. Ich vergaß Lilou und Yasuo. Ich vergaß sogar das Schwimm-Debakel. Sucher Judge hatte mich eingefangen. Mit Forensik .
Ich umklammerte meinen Stift, fest entschlossen, seine Ausführungen notfalls wörtlich mitzuschreiben. Ronan hatte vorausgesagt, dass mir der Unterricht gefallen würde. Vielleicht stimmte das – zumindest für dieses Fach.
»Wir studieren außerdem Anatomie«, fuhr er fort. »Physiologie. Vampirismus.« Er schlenderte durch den Hörsaal und suchte den Blickkontakt zu seinen Studenten.
Der Gedanke, weshalb sich künftige Vampire mit Anatomie beschäftigen mussten, rief ein leises Gruseln in mir hervor. Aber Vampirismus ? Cool.
»Heute beginnen wir mit einer ganz einfachen Geschicklichkeitsübung.« Judge öffnete einen Wandschrank ganz hinten im Hörsaal und holte einen geräumigen Leinensack hervor.
Ich starrte das Ding wie hypnotisiert an. Der Inhalt machte Beulen und war allem Anschein nach ziemlich schwer. Womöglich hatte uns Judge ein paar Schädel mitgebracht – als anatomisches Anschauungsmaterial.
Judge kramte etwas aus dem Sack. Scheppernd landete es auf dem Arbeitstisch eines Vampir-Anwärters. Der Junge zuckte zusammen und grinste dann dämlich in die Runde, um uns kundzutun, dass er total cool war.
Wir drehten uns um und reckten die Hälse. Ich hatte ja insgeheim gehofft, dass er dem Muskelprotz Winkelmesser und Zeichendreieck in die Hand drücken und ein paar Geometrie-Aufgaben von ihm verlangen würde.
Pech für mich, aber das Ding, das er zum Vorschein gebracht hatte, war fast genauso gut. »Heute bringe ich euch bei, wie man ein Schloss knackt.«
Yasuo und ich machten große Augen.
»Die ersten Schlösser gab es bereits vor viertausend Jahren im alten Ägypten. Damals benutzte man ein hölzernes Zylinderschloss, eine Technologie, die sich im Prinzip bis heute erhalten hat.«
Judge schlenderte durch den Hörsaal und verteilte wahllos eine Kollektion von Gegenständen auf unseren Tischen. Ich erspähte Büroklammern, Gabeln, flache Metallstücke, Scheren und Schlösser in allen Variationen. Vorhängeschlösser, Stangenschlösser, Türschlösser – was auch immer.
»In eurer Erstausrüstung befand sich auch ein Satz Werkzeuge.«
»Hast du Werkzeuge bekommen?«, flüsterte ich Yasuo zu.
»Werkzeuge funktionieren bei optimalen Bedingungen«, fuhr der Dozent fort. »Aber wie wir alle wissen, sind die Bedingungen nicht immer optimal.«
Yasuo wartete, bis Judge sich weit genug entfernt hatte, ehe er meine Frage beantwortete. »Yeah, in einem kleinen Leder-Etui.«
»Oh, Mann.« Ich grinste. »Ich dachte, das sei ein Maniküre-Set oder so.«
Wir lachten beide, bis wir merkten, dass Judge uns beobachtete. Ich erstarrte, doch der Dozent lächelte uns nur zu. Als nähme auch er den Stoff dieser ersten Stunde nicht ganz ernst.
Das alles fühlte sich so normal an. Ich hatte mich im Unterricht nie normal gefühlt. Irgendwie fand ich Spaß an der Sache. Aber ich hegte den finsteren Verdacht, dass sich das bald ändern würde.
»Du hast einen Spanner in deinem Werkzeug.« Judge kam zu mir und legte mir ein Messer, eine leere Cola-Dose und ein Vorhängeschloss auf den Tisch. »Aber genau genommen kriegst du die meisten Schlösser mit irgendeinem Metallteil auf.«
Ich starrte das seltsame Sortiment auf meinem Tisch ungläubig an. So einfach konnte das nicht sein. Judge ging weiter, und ich wandte mich sofort Yasuo zu. »Eine Cola-Dose? Im Ernst?«
»Klar. Dreh dich mal um!« Er wies mit dem Daumen über die Schulter.
Ein paar Studenten saßen weit zurückgelehnt da, wirbelten die offenen Schlossbügel gelangweilt um ihre Finger oder trommelten lässig mit kleinen Blechstreifen auf die Tischplatten. Sie hatten die Aufgabe sozusagen im Handumdrehen gelöst. Wahnsinn.
»Das hätte ich mir denken können«,
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