Ismael

Titel: Ismael Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Quinn

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immer noch nicht.«
    »Du wirst sie bald erfahren, keine Sorge. Vorerst brauchst du nur zu wissen, daß, seit es die Menschen gibt, zwei grundsätzlich verschiedene Geschichten aufgeführt werden. Die eine wurde zum ersten Mal vor zwei bis drei Millionen Jahren von den Menschen aufgeführt, die wir nach unserer Vereinbarung >Lasser< nennen, und sie wird heute noch aufgeführt, und zwar so erfolgreich wie eh und je. Die andere wurde vor zehn- bis zwölf tausend Jahren zum ersten Mal von den Menschen aufgeführt, die wir >Nehmer< nennen wollen, und sie wird allem Anschein nach in einer Katastrophe enden.«
    »Aha«, sagte ich, ohne zu wissen, was ich damit meinte.
    6
    »Wenn Mutter Kultur die menschliche Geschichte mit unseren Begriffen nacherzählen würde, dann würde das etwa so klingen: >Die Lasser waren das erste Kapitel der Menschheitsgeschichte - ein langes und ereignisloses Kapitel. Das Kapitel endete vor ungefähr zehntausend Jahren mit dem Aufkommen der Landwirtschaft im Nahen Osten. Dieses Ereignis markierte den Beginn des zweiten Kapitels, des Kapitels der Nehmer. Zwar gibt es auf der Welt immer noch Lasser, aber sie sind Anachronismen, Fossilien - sie leben in der Vergangenheit und können nicht verstehen, daß ihr Kapitel der Menschheitsgeschichte vorbei ist.<«
    »Richtig.«
    »So in etwa wird die Menschheitsgeschichte in deiner Kultur dargestellt.«
    »Stimmt.«
    »Du wirst später sehen, daß ich ganz anderer Meinung bin. Die Lasser sind nicht das erste Kapitel der Geschichte und die Nehmer nicht das zweite.«
    »Kannst du das noch mal sagen?«
    »Ich will es anders ausdrücken. Lasser und Nehmer führen zwei getrennte Geschichten auf, die von ganz verschiedenen und gegensätzlichen Voraussetzungen ausgehen. Aber das sehen wir uns später noch genauer an, du brauchst es also nicht schon jetzt zu verstehen.«
    »Gut.«
    7
    Nachdenklich kratzte Ismael sich am Unterkiefer. Da ich auf der anderen Seite der Scheibe saß, hörte ich nichts, aber in meiner Einbildung klang es wie eine Schaufel, die über Kies gezogen wurde.
    »Ich denke, unser Koffer ist gepackt. Wie gesagt, ich erwarte nicht, daß du dir alles merkst, was ich heute eingepackt habe. Wenn du nachher gehst, herrscht in deinem Kopf wahrscheinlich ein einziges Durcheinander.«
    »Das glaube ich auch«, sagte ich im Brustton der Überzeugung.
    »Aber das ist nicht weiter schlimm. Wenn ich morgen etwas aus dem Koffer hole, das ich heute eingepackt habe, wirst du es sofort wiedererkennen, und nur darum geht es.«
    »Da bin ich ja beruhigt.«
    »Wir machen heute nur eine kurze Sitzung. Die eigentliche Reise beginnt morgen. Bis dahin kannst du dir überlegen, welche Geschichte die Menschen deiner Kultur in den vergangenen zehntausend Jahren aufgeführt haben. Weißt du, wovon die Geschichte handelt?«
    »Nein.«
    »Nun, sie handelt vom Sinn der Welt, von den Absichten der Götter in ihr und von der Bestimmung des Menschen.«
    »Darüber kann ich dir eine Menge Geschichten erzählen, nicht nur eine.«
    »Aber es gibt diese eine Geschichte, die alle Menschen deiner Kultur kennen und glauben.«
    »Ich weiß leider immer noch nicht, welche du meinst.«
    »Vielleicht hilft es dir, wenn ich sage, daß es eine Geschichte ist, die etwas erklärt, und zwar nach dem Schema: >Wie kam der Elefant zu seinem Rüssel?< oder > Wie kam der Leopard zu seinen Flecken? «<
    »Aha.«
    »Was, glaubst du, erklärt nun diese Geschichte?«
    »Mein Gott, keine Ahnung.«
    »Es geht eigentlich aus dem hervor, was ich schon gesagt habe. Sie erklärt, wie die Welt geworden ist, was sie heute ist. Von Anfang bis jetzt.«
    »Ach so«, sagte ich und sah zum Fenster hinaus. »Eine solche Geschichte kenne ich aber nicht. Geschichten ja, aber nicht eine einzige Geschichte.«
    Ismael dachte ein, zwei Minuten nach. »Gestern habe ich von meinen Schülern gesprochen. Eine Schülerin wollte mir unbedingt erklären, was sie suchte. Sie sagte: > Warum regt sich keiner auf? Ich höre, wie die Leute im Waschsalon über das Ende der Welt diskutieren, und sie sind dabei so ruhig, als ob sie sich über verschiedene Waschmittel unterhalten würden. Die Leute reden von der Zerstörung der Ozonschicht und dem Tod jeden Lebens. Sie reden von der Zerstörung der Regenwälder, von der tödlichen Verschmutzung, die uns Jahrtausende und Jahrmillionen begleiten wird, und davon, daß täglich Dutzende von Arten aussterben und keine neuen Arten mehr entstehen. Und sie scheinen vollkommen ruhig.<
    Ich sagte