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Ismael

Ismael

Titel: Ismael Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Quinn
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Kultur.«
    Ich sah ihn böse an. »Wir haben keinen solchen Mythos«, sagte ich. »Soviel steht fest.«

Drei
    1
    »Was ist denn das?« fragte ich, als ich am nächsten Morgen ankam. Ich zeigte auf einen Gegenstand, der sich auf der Armlehne meines Sessels befand.
    »Wie sieht es aus?«
    »Wie ein Tonbandgerät.«
    »Genau das ist es.«
    »Nein, ich meine, wozu ist es da?«
    »Um die exotischen Märchen einer zum Untergang verurteilten Kultur, die du mir gleich erzählen wirst, für die Nachwelt aufzuzeichnen.«
    Ich lachte und setzte mich.
    »Ich fürchte, ich kann dir keine solchen exotischen Märchen erzählen«, sagte ich.
    »Dann hat meine Anregung, nach einem Schöpfungsmythos zu suchen, zu keinem Ergebnis geführt?«
    »Wir haben keinen solchen Mythos«, sagte ich noch einmal. »Es sei denn, du meinst den in der Genesis.«
    »Sei nicht albern. Wenn ein Lehrer der achten Klasse dich auffordern würde, seinen Schülern zu erklären, wie die Welt entstanden ist, würdest du ihnen dann das erste Kapitel der Genesis vorlesen?«
    »Natürlich nicht.«
    »Und was würdest du ihnen sagen?« »Ich würde über die Entstehung der Welt sprechen, aber das wäre kein Mythos.«
    »Natürlich glaubst du nicht, daß es ein Mythos ist. Für die Menschen, die eine solche Geschichte erzählen, ist sie nie ein Mythos, sondern einfach die Geschichte.«
    »Gut, aber die Geschichte, die ich meine, ist ganz bestimmt kein Mythos. Sie ist vielleicht in einigen Teilen noch nicht gesichert, und wahrscheinlich werden sich aufgrund künftiger Forschungen noch manche Änderungen ergeben, aber ein Mythos ist sie nicht.«
    »Schalte das Tonbandgerät ein und fange an. Dann wissen wir bald mehr.«
    Ich sah ihn vorwurfsvoll an. »Du meinst, ich soll wirklich ...
    äh ...«
    »Die Geschichte erzählen. Ja, genau das sollst du.«
    »Ich kann sie nicht so einfach heruntererzählen. Ich brauche Zeit zum Überlegen.«
    »Wir haben jede Menge Zeit. Das Band ist neunzig Minuten lang.«
    Seufzend schaltete ich schließlich das Gerät ein und schloß die Augen.
    2
    Ein paar Minuten später fing ich an. »Das Ganze begann vor langer Zeit, vor zehn bis fünfzehn Milliarden Jahren. Ich weiß nicht, welche Theorie im Augenblick die aktuellste ist, das stationäre Modell oder der Urknall, aber auf jeden Fall entstand das Universum vor langer Zeit.«
    An dieser Stelle öffnete ich die Augen und sah Ismael fragend an.
    Er erwiderte meinen Blick und sagte: »Ist das alles? Die ganze Geschichte?«
    »Nein, ich wollte mich nur vergewissern.« Ich schloß die Augen wieder und fuhr fort: »Dann, ich weiß nicht wann - ich schätze, vor sechs bis sieben Milliarden Jahren -, entstand unser Sonnensystem ... Ich erinnere mich an ein Bild aus irgendeinem Kinderlexikon, auf dem lauter farbige Kleckse zu sehen waren, von denen einige miteinander verschmolzen ... und das waren die Planeten, die im Lauf der nächsten Milliarden Jahre abkühlten und erstarrten ... Laß mich überlegen. Das Leben entstand in der organischen Brühe der Urmeere vor, sagen wir - fünf Milliarden Jahren?«
    »Dreieinhalb bis vier.«
    »Gut. Aus Bakterien und Mikroorganismen entwickelten sich höhere und komplexere Lebensformen, aus denen sich noch komplexere Formen entwickelten. Das Leben breitete sich allmählich auch auf das Land aus. Ich weiß nicht genau ... Schleim am Rand der Meere ... Lurche ... Die Lurche wanderten aufs Land, und aus ihnen entwickelten sich Reptilien. Aus den Reptilien entwickelten sich die Säugetiere. Das war wann? Vor einer Milliarde Jahren?«
    »Vor einer Viertelmilliarde.«
    »Gut. Die Säugetiere auf jeden Fall... ich weiß nicht genau. Kleine Lebewesen in kleinen Nischen ... unter Büschen, auf Bäumen ... Aus den Tieren auf den Bäumen entwickelten sich die Primaten. Dann, ich weiß nicht wann - vielleicht vor zehn bis fünfzehn Millionen Jahren -, stieg eine Art der Primaten von den Bäumen herunter ...« Langsam ging mir die Puste aus.
    »Das ist hier keine Prüfung«, sagte Ismael. »Die ungefähre Entwicklung reicht - nur die Geschichte, wie sie vom Busfahrer bis zum Senator jeder kennt.«
    »Gut«, sagte ich und schloß die Augen wieder. »Also gut. Eines führte zum anderen. Art folgte auf Art, und zuletzt kam der Mensch. Das war wann? Vor drei Millionen Jahren?« »Drei dürfte in etwa hinkommen.«
    »Gut.«
    »Fertig?«
    »Im großen Ganzen, ja.«
    »Die Geschichte der Entstehung der Welt, wie man sie sich in deiner Kultur erzählt.«
    »Richtig. Nach den

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