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Ismael

Ismael

Titel: Ismael Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Quinn
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modernsten Erkenntnissen der Wissenschaft.«
    Ismael nickte und befahl mir, das Tonbandgerät auszuschalten. Dann lehnte er sich mit einem Seufzer zurück, der die Scheibe erzittern ließ wie das Beben eines entfernten Vulkans. Er faltete die Hände über seinem Bauch und bedachte mich mit einem langen, unergründlichen Blick. »Und du, ein intelligenter, in Maßen gebildeter Mensch, willst mich glauben machen, dies sei kein Mythos.«
    »Was hat das mit einem Mythos zu tun?«
    »Ich sagte nicht, es habe etwas mit einem Mythos zu tun. Ich sagte, es sei ein Mythos.«
    Ich glaube, ich lachte nervös. »Vielleicht weiß ich nicht, was du unter einem Mythos verstehst.«
    »Ich verstehe darunter dasselbe wie du. Ich gebrauche das Wort im ganz normalen Sinn.«
    »Was ich erzählt habe, ist kein Mythos.«
    »Aber sicher. Hör dir das an.« Ismael befahl mir, das Band zurück zu spulen und abzuspielen.
    Ich hörte mir das Band an und legte die Stirn für ein, zwei Minuten in nachdenkliche Falten, um dem Anschein zu genügen.
    Dann sagte ich: »Es ist kein Mythos. Man könnte das in ein Schulbuch der achten Klasse aufnehmen, und ich glaube nicht, daß irgendeine Schulbehörde daran etwas auszusetzen hätte, außer vielleicht die Anhänger der Schöpfungslehre.«
    »Ich stimme dir von ganzem Herzen zu. Habe ich nicht gesagt, daß diese Geschichte in deiner Kultur allgegenwärtig ist?
    Kinder lernen sie aus den verschiedensten Medien, unter anderem aus Schulbüchern.«
    »Was meinst du dann? Willst du sagen, daß die Darstellung nicht auf Fakten beruht?«
    »Deine Darstellung ist voller Fakten, gewiß, aber ihre Anordnung ist der reine Mythos.«
    »Ich weiß nicht, wovon du sprichst.«
    »Offenbar hast du deinen Verstand ausgeschaltet. Mutter Kultur hat dich in den Schlaf gesungen.«
    Ich sah ihn streng an. »Willst du sagen, die Evolution sei ein Mythos?«
    »Nein.«
    »Der Mensch sei kein Produkt der Evolution?«
    »Nein.«
    »Was dann?«
    Ismael sah mich lächelnd an. Dann zuckte er die Schultern und zog die Augenbrauen hoch.
    Ich starrte ihn an und dachte: Ein Gorilla hält mich zum Narren! Aber es half nicht.
    »Spiel das Band noch einmal ab«, sagte er.
    Ich tat es. Dann sagte ich: »Also gut, eins ist mir aufgefallen, nämlich das Wort kommen. Ich sagte, zuletzt kam der Mensch. Stört dich das?«
    »Nein, überhaupt nicht. Ich streite nicht über ein Wort. Aus dem Kontext ging klar hervor, daß du kommen nur als Synonym für entwickeln gebraucht hast.«
    »Was meinst du dann, um Himmels willen?«
    »Ich habe den Eindruck, du denkst nicht genügend nach. Du hast mir eine Geschichte erzählt, die du tausendmal gehört hast, und jetzt hörst du nur noch, wie Mutter Kultur dir ins Ohr murmelt: >Immer mit der Ruhe, mein Kind, mach dir keine Gedanken, mach dir keine Sorgen, reg dich bloß nicht auf, hör nicht auf das blöde Tier, das ist kein Mythos, nichts von dem, was ich dir sage, ist ein Mythos, also denk nicht weiter darüber nach und mach dir keine Sorgen, hör nur auf meine Stimme und schlafe, schlafe, schlafe ...«
    Ich kaute eine Weile auf den Lippen und sagte dann: »Das hilft mir auch nicht weiter.«
    »Also gut«, sagte Ismael. »Dann erzähle ich dir eine Geschichte, vielleicht hilft sie dir weiter.« Er knabberte an den Blättern eines Zweiges, schloß dann die Augen und begann.
    3
    Die folgende Geschichte (sagte Ismael) spielt vor einer halben Milliarde Jahre - vor einer undenkbar langen Zeit. Du hättest diesen Planeten damals nicht erkannt. Auf dem Land bewegte sich nichts außer Wind und Staub. Kein einziger Grashalm schwankte im Wind, nicht eine Grille zirpte, kein Vogel kreiste am Himmel. Das alles lag noch zigmillionen Jahre in der Zukunft. Sogar die Meere waren öde und verlassen, denn auch Wirbeltiere sollte es erst in zigmillionen Jahren geben.
    Aber natürlich gab es einen Anthropologen, denn wo gäbe es den nicht? Unser Anthropologe war freilich zutiefst frustriert und deprimiert. Er hatte die ganze Erde nach einem lebendigen Wesen abgesucht, dem er seine Fragen stellen konnte, aber die Tonbänder in seinem Ranzen waren so leer wie der Himmel über ihm. Als er nun eines Tages tieftraurig am Meer entlangwanderte, entdeckte er im seichten Wasser plötzlich etwas, das aussah wie ein Lebewesen. Es war nichts Großartiges, mehr ein wabbeliges Etwas, aber es war das erste Lebewesen, dem er auf seinen Reisen begegnete, deshalb watete er zu der Stelle hinaus, wo das Ding in den Wellen auf und ab hüpfte.
    Er

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