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Ismael

Ismael

Titel: Ismael Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Quinn
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Universitäten, Opernhäuser und Raumschiffe Dinge einer fremden, unzugänglichen Welt sind. Viele hundert Millionen von euch leben in Zuständen, von denen die meisten Menschen dieses Landes sich keine Vorstellung machen. Sogar bei uns sind Millionen obdachlos oder leben in Elend und Verzweiflung in Slums, in Gefängnissen und in öffentlichen Einrichtungen, die nicht viel besser sind als Gefängnisse. Für all diese Menschen wäre die Rechtfertigung der landwirtschaftlichen Revolution, die dir so selbstverständlich über die Lippen kommt, völlig bedeutungslos.«
    »Stimmt.«
    »Aber kehren sie der Revolution den Rücken, weil sie die Früchte der Revolution nicht genießen können? Würden sie ihr elendes, verzweifeltes Leben gegen jenes Leben eintauschen, das sie vor der Revolution gehabt haben?«
    »Nein.«
    »Ganz meine Meinung. Die Nehmer glauben an die Revolution, auch wenn sie keinen Vorteil von ihr haben. Sie murren nicht, sie kritisieren nicht, sie machen keine Gegenrevolution. Sie sind alle zutiefst davon überzeugt, daß es ihnen jetzt viel besser geht als vorher, auch wenn es ihnen noch so schlecht geht.«
    »Ja.«
    »Ich will, daß du dieser seltsamen Überzeugung heute auf den Grund gehst. Dann wirst du die Revolution und das Leben der Lasser in einem ganz anderen Licht sehen.«
    »Gut. Aber wie stelle ich das an?«
    »Indem du auf Mutter Kultur hörst. Sie hat dir das ganze Leben lang Dinge eingeflüstert, und was du gehört hast, unterscheidet sich nicht von dem, was deine Eltern und deine Großeltern gehört haben, und was die Menschen auf der ganzen Welt täglich hören. Anders ausgedrückt, was ich suche ist in deinem Kopf und in den Köpfen von euch allen begraben. Heute sollst du es ausgraben. Mutter Kultur hat euch gelehrt, das Leben, das ihr mit der Revolution hinter euch gelassen habt, zu verabscheuen, und ich will, daß du diese Abscheu zu ihren Wurzeln zurückverfolgst.«
    »Also gut«, sagte ich. »Es stimmt, daß wir einen regelrechten Horror vor diesem Leben haben, aber das Problem ist, daß ich das eigentlich recht plausibel finde.«
    »Ja? Warum?«
    »Ich weiß nicht. Es ist ein Leben, das nirgendwohin führt.«
    »Keine oberflächlichen Argumente mehr. Geh in die Tiefe.«
    Mit einem Seufzer wickelte ich die Decke fester um mich und begann, in die Tiefe hinabzusteigen. »Das ist ja interessant«, sagte ich nach einer Weile. »Ich denke hier über das Leben unserer Vorfahren nach, und plötzlich sehe ich ein ganz bestimmtes, detailliertes Bild.«
    Ismael schwieg.
    »Das Bild ist wie ein Traum, oder mehr wie ein Alptraum. Ein
    Mann müht sich in der Dämmerung auf einem Bergkamm vorwärts. In dieser Welt herrscht immer Dämmerung. Der Mann ist klein, mager, dunkel und nackt. Er rennt gebückt und sucht nach Spuren. Er ist auf der Jagd, und er ist verzweifelt, denn die Nacht bricht an und er hat nichts zu essen.
    Er rennt immer weiter, wie in einer Tretmühle. Und er ist tatsächlich in einer Tretmühle, denn wenn es am nächsten Tag dämmert, wird er immer noch rennen - oder wieder. Aber nicht nur Hunger und Verzweiflung treiben ihn an, er hat auch entsetzliche Angst. Denn hinter ihm, gerade noch außer Sicht, kommen seine Feinde, die ihn in Stücke reißen wollen - Löwen, Wölfe und Tiger. Deshalb muß er ewig weiterrennen, seiner Beute ewig einen Schritt hinterher und seinen Feinden nur einen Schritt voraus.
    Der Kamm versinnbildlicht natürlich, daß sein Leben auf Messers Schneide steht. Der Mann muß ständig kämpfen, daß er nicht herunterfällt. Es ist geradezu, als ob Bergkamm und Himmel sich bewegten und nicht der Mann. Er rennt immer auf derselben Stelle, gefangen und ohne Ziel.«
    »In anderen Worten, die Jäger und Sammler führen ein rauhes Leben.«
    »Ja.«
    »Und was macht es so rauh?«
    »Es ist ein ständiger Kampf ums Überleben.«
    »Aber in Wirklichkeit ist es das überhaupt nicht. Und das weißt du auch, das ist in einer anderen Ecke deines Hirns sehr wohl gespeichert. Die Jäger und Sammler leben nicht gefährlicher als Wölfe, Löwen, Spatzen oder Kaninchen. Der Mensch war an das Leben auf der Erde so gut angepaßt wie jede andere Art, und die Vorstellung, sein Überleben hätte ständig auf Messers Schneide gestanden, ist, biologisch gesehen, Unsinn. Als Allesfresser stehen ihm Nahrungsmittel in Hülle und Fülle zur Verfügung. Tausende von Arten müssen hungern, bevor er hungert. Aufgrund seiner Intelligenz und Geschicklichkeit kann er noch unter Umständen

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