Ismael
hätte ich nicht das Gefühl, daß ich hier der einzige bin, von dem erwartet wird, daß er seinen Verstand gebraucht.«
»Ich verstehe leider nicht, worauf du hinauswillst.«
»Das merke ich schon, und genau das stört mich. Du bist zu einem passiven Zuhörer geworden, der seinen Verstand abschaltet, sobald er sich hingesetzt hat, und wieder einschaltet, wenn er aufsteht, um zu gehen.«
»Das ist nicht wahr.«
»Dann sage mir, warum es für dich keine Zeitverschwendung ist, eine Geschichte zu erfahren, die bald sowieso keiner mehr kennt.«
»Na ja, es ist eben keine Zeitverschwendung.«
»Das reicht nicht. Ich tue nicht etwas, nur weil es keine Zeitverschwendung ist.«
Ich zuckte hilflos die Schultern.
Ismael schüttelte voller Verachtung den Kopf. »Du glaubst also wirklich, daß es keinen besonderen Grund gibt, warum man diese Geschichte kennen sollte. Das ist jetzt klar.«
»Mir ist das gar nicht klar.«
»Du glaubst, es gibt einen Grund?«
»Na ja ... doch.«
»Was für einen?«
»Gott... Weil ich sie eben wissen will, das ist der Grund.« »Nein. Auf dieser Basis mache ich nicht weiter. Ich möchte weitermachen, aber nicht, wenn ich damit nur deine Neugier befriedige. Geh jetzt und komm erst wieder, wenn du mir einen wirklichen Grund sagen kannst, warum du weitermachen willst.«
»Was wäre ein solcher Grund? Gib mir ein Beispiel.«
»Also gut. Warum willst du die Geschichte hören, die von den Menschen deiner Kultur aufgeführt wird?«
»Weil wir, dadurch daß wir sie aufführen, die Welt kaputtmachen.«
»Richtig. Aber warum die Geschichte kennenlernen?«
»Weil man sie kennen sollte.«
»Wer sollte sie kennen?«
»Alle.«
»Aber warum? Ich komme immer wieder darauf zurück. Warum, warum und nochmals warum? Warum sollten die Menschen deiner Kultur die Geschichte kennen, die sie aufführen und durch die sie die Welt zerstören?«
»Damit sie aufhören, die Geschichte aufzuführen. Damit sie nicht länger alles nur kaputtmachen. Damit sie begreifen, daß sie einem größenwahnsinnigen Hirngespinst aufgesessen sind - so unsinnig wie das Tausendjährige Reich.«
»Und deshalb sollte man die Geschichte kennen?«
»Ja.«
»Bravo. Jetzt geh und komm wieder, wenn du mir sagen kannst, warum man auch die andere Geschichte kennen sollte.«
»Dazu brauche ich nicht zu gehen. Das kann ich dir gleich sagen.«
»Ich höre.«
»Die Menschen können eine Geschichte nicht einfach aufgeben. Die jungen Leute in den sechziger und siebziger Jahren haben das versucht. Sie wollten nicht mehr wie die Nehmer leben, aber sie wußten nicht, wie sie sonst leben sollten. Sie scheiterten, weil man nicht einfach mit einer Geschichte aufhören kann, ohne eine andere zu haben.«
Ismael nickte. »Und wenn es eine solche Geschichte gäbe, sollten die Menschen sie kennen?«
»Ja.«
»Glaubst du, sie wollen sie überhaupt kennenlernen?«
»Ich weiß nicht. Aber ich glaube, man kann etwas erst wollen, wenn man weiß, daß es so etwas gibt.«
»Da hast du recht.«
2
»Was, glaubst du, ist das Thema der Geschichte?«
»Keine Ahnung.«
»Das Jagen und Sammeln vielleicht?«
»Ich weiß nicht.«
»Sei ehrlich. Hast du jetzt nicht eine Hymne auf die Freuden des Jägerlebens erwartet?«
»Nein.«
»Na gut, aber du hättest wenigstens wissen können, daß die Geschichte vom Sinn der Welt, von den Absichten der Götter und von der Bestimmung der Menschen handelt.«
»Ja.«
»Und ich habe schon oft gesagt, daß der Mensch zum Menschen wurde, indem er diese Geschichte aufführte. Das müßtest du jetzt eigentlich auch wissen.«
»Ja.«
»Wie wurde der Mensch zum Menschen?«
Ich untersuchte die Frage auf etwaige Fallen und fragte dann zurück: »Ich verstehe nicht ganz, worauf die Frage zielt. Oder ich bin nicht sicher, was für eine Antwort du haben willst. Wahrscheinlich willst du nicht hören, daß der Mensch durch die Evolution zum Menschen wurde.« »Das würde ja nur heißen, daß er Mensch wurde, indem er Mensch wurde, oder?«
»Ja.«
»Die Frage ist also noch nicht beantwortet. Wie wurde der Mensch zum Menschen?«
»Wahrscheinlich ist die Antwort ganz banal.«
»Ja. Wenn ich sie dir verraten würde, würdest du sagen: >Ach so, natürlich, das.<«
Ich zuckte ratlos die Schultern.
»Dann müssen wir uns der Antwort auf einem Umweg nähern - aber behalte die Frage im Gedächtnis.«
»Gut.«
3
»Was für eine Revolution war eure landwirtschaftliche Revolution laut Mutter Kultur?«
»Was für eine
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