Ismael
leben, unter denen ein anderer Primat hoffnungslos verloren wäre.
Die Sammler und Jäger suchen also keineswegs die ganze Zeit verzweifelt nach Nahrung, im Gegenteil, sie gehören zu den besternährten Menschen der Welt, und sie müssen dazu nur zwei bis drei Stunden täglich das tun, was du Arbeit nennen würdest - sie gehören also auch noch zu den Menschen mit der meisten Freizeit. Marshall Sahlins nennt ihre Gesellschaft in seinem Buch über die Wirtschaft der Steinzeit >die ursprüngliche Wohlstandsgesellschaft«. Übrigens hat der Mensch unter den Raubtieren so gut wie keine Feinde. Er steht bei keinem Raubtier auf dem Speiseplan ganz oben. Du siehst also, daß die Horrorvision vom Leben deiner Vorfahren lediglich ein weiterer Unsinn ist, den Mutter Kultur verzapft hat. Wenn du willst, kannst du das alles an einem Nachmittag in der Bücherei nachlesen.«
»Gut«, sagte ich. »Und weiter?«
»Siehst du dieses Leben jetzt nicht in einem anderen Licht, wo du weißt, daß deine Horrorvision Unsinn ist? Kommt es dir nicht weniger abstoßend vor?«
»Vielleicht weniger abstoßend. Aber immer noch abstoßend.«
»Paß auf. Nehmen wir einmal an, du seist einer der Obdachlosen dieses Landes. Keine Arbeit, keine Ausbildung, aber Frau und zwei Kinder. Du hast keine Perspektive, keine Hoffnung, keine Zukunft. Aber jetzt gebe ich dir ein Kästchen mit einem Knopf. Sobald du auf den Knopf drückst, werdet ihr im Bruchteil einer Sekunde in die Zeit vor der Revolution zurückversetzt. Ihr sprecht die Sprache und könnt alles, was die Menschen damals konnten. Du brauchst dich nie mehr darum zu sorgen, wie du dich und deine Familie durchbringst. Es ist für alles gesorgt, denn du bist ein Glied jener ursprünglichen Wohlstandsgesellschaft.«
»Gut.«
»Würdest du auf den Knopf drücken?«
»Ich weiß nicht. Ich habe so meine Zweifel.«
»Warum? Du gibst doch hier kein schönes Leben auf. Denn das ist ja die Voraussetzung: daß dein Leben hier unglücklich ist und keine Aussicht auf Besserung besteht. Trotzdem kommt dir das andere Leben noch schlimmer vor. Du hängst zwar nicht an deinem bisherigen Leben, aber du kannst dich nicht zu dem anderen Leben entschließen.«
»Genau.«
»Warum erscheint es dir so abstoßend?«
»Ich weiß nicht.«
»Mutter Kultur hat offenbar gründliche Arbeit geleistet.«
»Scheint so.«
»Also gut, versuchen wir es anders. Überall, wo die Nehmer auf Jäger und Sammler treffen, die Platz beanspruchen, den sie für sich selbst wollen, versuchen sie ihnen zu erklären, warum sie ihr Leben aufgeben und Nehmer werden sollten. Sie sagen: >Euer Leben ist nicht nur unglücklich, es ist falsch. Der Mensch soll so nicht leben. Also kämpft nicht gegen uns, sondern schließt euch der Revolution an und helft uns, die Welt in ein Paradies für den Menschen zu verwandeln. <«
»Ja.«
»Du übernimmst jetzt diese Rolle - die Rolle des Missionars in Sachen Kultur -, und ich spiele den Jäger und Sammler. Erkläre mir, warum das Leben, mit dem ich und mein Volk Tausende von Jahren zufrieden waren, elend, erbärmlich und abstoßend ist.«
»Oje.«
»Ich fange an, dann hast du es leichter ... Bwana, du sagst, unser Leben sei elend, schlecht und schändlich. Du sagst, die Menschen sollten nicht so leben. Das verstehen wir nicht, Bwana, denn wir waren viele tausend Jahre damit zufrieden. Aber wenn du, der du zu den Sternen reist und Worte mit der Geschwindigkeit von Gedanken um die Welt schickst, sagst, es sei nicht gut, dann müssen wir aufmerksam zuhören, was du zu sagen hast.«
»Hm ... Ich merke schon, daß ihr mit eurem Leben zufrieden seid. Das ist so, weil ihr unwissend, ungebildet und dumm seid.«
»Genau das sind wir, Bwana. Bitte erleuchte uns. Sage uns, warum unser Leben elend, dreckig und schändlich ist.«
»Das ist so, weil ihr wie die Tiere lebt.«
Ismael runzelte überrascht die Stirn. »Das verstehe ich nicht, Bwana. Wir leben wie die anderen. Wir nehmen uns, was wir brauchen, und lassen den Rest in Frieden, wie der Löwe und das Reh auch. Leben der Löwe und das Reh denn in Schande?«
»Nein, aber das sind nur Tiere. Die Menschen dürfen so nicht leben.«
»Ach so«, sagte Ismael, »das wußten wir nicht. Warum dürfen wir so nicht leben?«
»Weil ... weil ihr so keine Kontrolle über euer Leben habt.«
Ismael legte den Kopf schräg und sah mich an. »Inwiefern haben wir das nicht, Bwana?«
»Ihr habt keine Kontrolle über das, was am wichtigsten ist, nämlich die
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