Ismael
nicht auf die Wohltätigkeit der Götter. Sogar die Orthodoxesten der Orthodoxen sind taub, wenn Jesus von den Vögeln am Himmel und den Lilien auf dem Feld spricht. Sie wissen genau, daß das nur schöne Reden sind.«
»Also lag deiner Meinung nach folgendes eurer Revolution zugrunde: Ihr wolltet selbst über euer Leben bestimmen, und das wollt ihr noch immer.«
»Ja, genau. Etwas anderes ist für mich unvorstellbar. Ich kann mir nur vorstellen, daß die Jäger und Sammler in ständiger Angst darüber leben, was der nächste Tag bringen wird.«
»Und doch ist es nicht so. Jeder Anthropologe kann dir das bestätigen. Die Jäger und Sammler haben weit weniger Angst als ihr. Sie haben keine Jobs zu verlieren. Niemand sagt zu ihnen: >Gib mir Geld, oder du bekommst kein Essen, keine Kleider und kein Dach über dem Kopf.<«
»Ich glaube dir. Vom Verstand her glaube ich dir. Aber ich spreche von meinen Gefühlen, von meiner kulturellen Konditionierung. Sie sagt mir - Mutter Kultur sagt mir -, daß ein Leben in der Hand der Götter ein Leben in Angst und Schrecken ist, ein endloser Alptraum.«
»Und das tut die Revolution für dich: Sie befreit dich von diesem schrecklichen Alptraum, sie befreit dich aus den Händen der Götter.«
»So ist es.«
»Jetzt haben wir zwei neue Namen für dich. Die Nehmer sind die, die wissen, was gut und böse ist, und die Lasser sind ...?«
»Die Lasser sind die, deren Leben in der Hand der Götter ist.«
Zwölf
1
Gegen drei Uhr hörte der Regen auf. Der Jahrmarkt erwachte zu neuem Leben, und wieder drängten die Massen herbei, um ihr Geld loszuwerden. Ziellos ließ ich mich eine Weile treiben und um einige Dollars erleichtern, dann kam mir die Idee, Ismaels Eigentümer aufzusuchen. Dieser war ein Schwarzer namens Art Owens. Er hatte stechende Augen, war ungefähr einssechzig groß und hatte in seinem Leben sicher viel Zeit mit Gewichtheben zugebracht. Ich sagte, ich sei daran interessiert, seinen Gorilla zu kaufen.
»Ernsthaft?« fragte er, und es klang weder verächtlich noch beeindruckt noch interessiert noch sonstwas.
Ich bejahte und fragte nach dem Preis.
»So gegen dreitausend.«
»So groß ist mein Interesse nun auch wieder nicht.«
»Wie groß ist es dann?« Es klang neugierig, aber nicht wirklich interessiert.
»Mehr so gegen tausend.«
Er grinste - aber nur ein bißchen, fast höflich. Irgendwie gefiel mir der Bursche.
»Das Tier ist steinalt, müssen Sie wissen. Die Johnsons haben es in den dreißiger Jahren mitgebracht.«
Das erregte seine Aufmerksamkeit. Er fragte, woher ich das wisse.
»Ich kenne das Tier«, sagte ich kurz, als ob ich noch tausend andere Gorillas kennen würde.
»Könnte auf zweifünf runtergehen«, sagte er.
»Das Problem ist nur, daß ich keine zweifünf habe.«
»Sehen Sie, ich habe bei einem Maler schon ein Schild bestellt«, sagte er. »Gegen zweihundert Vorauszahlung.«
»Hm. Wahrscheinlich könnte ich fünfzehnhundert zusammenbringen.«
»Unter zweitausendzweihundert läuft nichts, Tatsache.«
Tatsache war, daß er, wenn ich ihm das Geld unter die Nase hielt, mit Freuden auf zweitausend heruntergehen würde. Vielleicht sogar auf achtzehnhundert. Ich sagte, ich würde darüber nachdenken.
2
Es war Freitag abend, die Besuchermassen machten sich deshalb erst ab elf auf den Heimweg, und mein altersschwacher Hilfsarbeiter kam erst gegen Mitternacht, um seine zwanzig Dollar Bestechung zu kassieren. Ismael schlief im Sitzen, immer noch in die Decken eingewickelt, aber ich hatte keine Skrupel, ihn zu wecken. Er sollte die Vorteile eines unabhängigen Lebens schätzen lernen.
Er gähnte und mußte zweimal niesen. Dann befreite er seine Kehle durch ein Räuspern von einer Unmenge Schleim und sah mich mit erschöpften Augen böse an.
»Komm morgen wieder«, krächzte er.
»Morgen ist Samstag - das ist hoffnungslos.«
Es ärgerte ihn, aber er wußte, daß ich recht hatte. Also schob er das Unvermeidliche noch eine Weile hinaus, indem er umständlich sich selbst, seinen Käfig und seine Decken in Ordnung brachte. Dann ließ er sich nieder und sah mich verdrossen »Wo waren wir stehengeblieben?«
»Bei zwei neuen Namen für die Nehmer und die Lasser: die, die wissen, was gut und böse ist, und die, deren Leben in der Hand der Götter ist.«
Ismael grunzte.
3
»Was passiert mit Menschen, deren Leben in der Hand der Götter ist, im Unterschied zu denen, die ihr Leben auf der Erkenntnis des Guten und Bösen aufbauen?«
»Laß mich
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