Ismael
nur von euch ab, ob ihr überlebt oder untergeht. Das ist doch damit gemeint, oder?«
»Ja. Aber es gibt eben immer noch Dinge, die wir nicht in der Hand haben. Bei einem totalen ökologischen Zusammenbruch wären wir machtlos, wir würden ihn nicht überleben.« »Ihr seid also noch nicht endgültig in Sicherheit. Wann wird das sein?«
»Wenn wir den Göttern die ganze Welt aus den Händen genommen haben.«
»Und selbst über sie bestimmt, weil ihr kompetenter seid.«
»Richtig. Dann werden die Götter endlich keine Macht mehr über uns haben. Sie werden über nichts mehr Macht haben. Die ganze Macht wird in unseren Händen sein, und wir werden endlich frei sein.«
6
»Die Nehmer haben immer gesagt, sie seien den Göttern entfremdet, sie würden aus irgendeinem Grund auf der falschen Seite stehen. Glaubst du, das hängt damit zusammen?«
»Ja, ich glaube schon. Wir haben den Göttern wegen Unfähigkeit gekündigt. Wir haben sie hinausgeworfen - aus der Welt vertrieben und an den Himmel verbannt. Wir haben die Götter in den Ruhestand geschickt und selbst die Macht über die Welt übernommen. Das war den Göttern natürlich gar nicht recht.«
Ismael nickte. »Wegen dieser Rebellion mußten die Götter beschwichtigt werden, deshalb nehmt ihr euren Göttern gegenüber seit jeher eine beschwichtigende Haltung ein.«
»Stimmt.«
»Und was diente traditionell dazu, die Götter zu beschwichtigen? Was für einen Knochen habt ihr ihnen hingeworfen?«
»Gebete, Gottesdienste.«
»Denke nach ... ganz konkret.«
Ich lachte. »Ich weiß nicht, was du meinst.«
»Die Nehmer haben nicht nur ihr eigenes Leben an sich gerissen, sondern alles Leben. Unter ihrer Herrschaft bestimmen nicht mehr die Götter über das Leben, sondern die Nehmer. Die Nehmer entscheiden, wer lebt und wer stirbt. Sie haben den Göttern die Herrschaft über das Leben selbst gestohlen.«
»Stimmt.«
»Was wäre eine angemessene Sühne für ein solches Verbrechen? Welche Art der Wiedergutmachung?«
»Sicher ist es wieder ganz banal ...«
»Denk an ein konkretes Zeichen, das soviel sagt wie: Hier, nehmt das als Wiedergutmachung und mäßigt euren Zorn.«
»Ein Tieropfer.«
»Ein Tieropfer oder irgendein anderes Opfer, etwa ein Teil der Ernte - zur Seite gelegt, um es den Göttern zurückzugeben. Ein Geschenk, das sagt: >Seht her, wir haben nicht vergessen, woher das kommt.< Warum?«
»Um sie zu besänftigen.«
»Ja, aber warum müßt ihr sie besänftigen?«
»Weil sie zornig sind.«
»Ich meine, warum kümmert ihr euch darum? Was macht es, wenn sie zornig sind?«
»Ach so. Die Nehmer mußten die Götter besänftigen, weil sie immer noch Dinge brauchten, die in der Hand der Götter waren. Es gab viele solche Dinge, zum Beispiel den Regen.«
»Aber im Lauf der Zeit wurde diese Art der Sühne immer nachlässiger ausgeübt und schließlich überhaupt nicht mehr. Warum?«
»Weil die Nehmer so erfolgreich Nahrung anbauten, daß sie sich leisten konnten, die Götter zu ignorieren.«
»Bis eine wirklich schlimme Dürre kam. Dann fiel ihnen ein, was sie tun mußten. Die Götter waren böse und mußten mit einer größeren Anzahl Kälber, Ziegen und Kühe besänftigt werden. Noch die Griechen und Römer brachten den Göttern regelmäßig Opfer dar, um sie bei Laune zu halten.«
»Ja. Ich weiß nicht ... Ich versuche mich gerade daran zu erinnern, was das Opfer für die Nehmer bedeutete. Ich meine, was dachten die Griechen und Römer sich dabei? Warum ein Glas Wein auf den Boden schütten? Warum sollte das die Götter besänftigen?«
»Man brauchte das gar nicht so genau zu wissen. Die Überzeugung, daß ein Opfer die Götter besänftigte, war uralt. Das reichte.«
»Stimmt.«
7
»Und?« sagte Ismael. »Kommen wir voran?«
»Ich glaube schon.«
»Glaubst du, wir wissen jetzt, was deiner Abneigung gegen das Leben vor der Revolution zugrunde liegt?«
»Ja. Keine Ermahnung Christi war vergeblicher als diese: >Sorgt euch nicht um morgen. Sorgt euch nicht darum, was ihr essen werdet. Seht euch die Vögel am Himmel an. Sie säen nicht, sie ernten nicht und sie sammeln nicht in die Scheunen, und Gott nährt sie doch. Glaubt ihr nicht, daß er dasselbe auch für euch tun wird?< In unserer Kultur antworten die weitaus meisten Menschen auf diese Frage: >Verdammt noch mal, nein!< Sogar die frömmsten Mönche säten und ernteten und füllten ihre Scheunen.«
»Und Franz von Assisi?«
»Franz von Assisi vertraute auf die Wohltätigkeit der Bauern,
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