Isola - Roman
nachzudenken. Was passiert jetzt mit uns? Was hat Tobias mit uns vor? Wenn er eine Möglichkeit hat, das Handy aufzuladen, wird er rausfinden, dass ich Hilfe gerufen habe und … «
Ich konnte nicht weitersprechen.
Die Tür öffnete sich. Tobias stand im Raum, mit dem Laptop unter dem Arm. Sein Gesicht war aschfahl, die Haare klebten ihm an der Stirn und seine Augen glühten. Mit schweren Schritten ging er auf den Tisch zu, schob das Bild seiner Mutter zur Seite, stellte den Laptop ab und schaltete ihn ein. In einer unglaublichen Geschwindigkeit fuhr der Computer hoch. Tobias drückte ein paar Tasten und auf der Bildfläche erschienen die Monitore. Solo und sein Vater fingen an, auf Tobias einzureden, wild durcheinander, aber ich verstand ihre Worte nicht. Ich fühlte mich wie unter Wasser, vor meinen Augen verschwamm alles und ein Druck legte sich auf meine Ohren, bis ich nur noch ein Rauschen hörte. Ich nahm wahr, wie Tobias auf mich zukam und mir mit dem Messer die Fesseln durchschnitt. Aber seine Stimme klang wie ein weit entferntes Echo, als ich ihn sagen hörte:
»Du kommst jetzt mit mir.«
Sechsundzwanzig
ES DÄMMERTE. Der Himmel war eine weiche blassblaue Fläche, in die sich ein rötlicher Schein mischte, eher eine Ahnung als eine Farbe. Auf der Meeresoberfläche kräuselten sich sanfte Wellen und die Luft war samtig und warm.
Tobias hatte mich zum Spalt im Höhlengang geschoben. Er stand hinter mir, so dicht, dass ich seinen Herzschlag in meinem Rücken fühlte. Seine Hand presste sich auf meinen Mund, mit der anderen hielt er das Messer. Ich spürte, wie er zitterte, am ganzen Körper, aber ich fühlte mich seltsam ruhig, und als ich die Augen schloss, erschienen vor meinem inneren Auge Bilder. Ich sah Esperança, wie sie mit mir und meinen Brüdern durch die Straßen von Rio lief, ich sah den alten Mann, der mir eine Mango angeboten hatte. Ich sah Erika, wie sie nachts an meinem Bett gesessen und mir Geschichten vorgelesen hatte, und Bernhard, wie er mir das Fahrradfahren beibrachte. Ich sah den Dois Irmaos , den Berg der zwei Brüder, und ich sah Solo, der sich vom Beifahrersitz des Autos zu mir umwandte und mir direkt in die Seele blickte. Ich spürte, wie mir Tränen die Wangen herunterliefen, und ich fühlte, wie Tobias immer stärker zitterte und dann einen furchtbaren Laut ausstieß, als tobte die Hölle in ihm.
Ich atmete. Ein und aus. Ein und aus. Unter mir konnte ich die Felsen sehen, schwarz und schroff.
Würde ich denken, wenn ich fiel? Wie schnell würde ich unten aufkommen? Wie würde ich aufkommen? Würde ich mich mit den Händen abstützen, würde ich fühlen, wie mir die Knochen brachen? Wie lange musste man leiden, wenn man starb? Wie lange musste man die Schmerzen aushalten? Ich dachte an Darling, an ihre Schreie, an ihr Zucken und an ihren angstverzerrten Blick, und ich dachte an Jokers Körper, wie er leblos im Meer gelegen hatte. Tobias tat nichts. Er stand nur da und hielt mich fest und plötzlich ertappte ich mich bei dem Wunsch, dass er anfing. Dass er es zu Ende brachte.
Von draußen wehte der Wind in den Höhlengang. Ich spürte ihn auf meiner Wange, aber ich hörte ihn nicht. Da war nur das Rauschen in meinen Ohren. Ich fragte mich, aus welcher Perspektive wir gefilmt wurden. Ob die Kameras in unserem Rücken oder über unseren Köpfen waren. Ich fragte mich, in welchem Ausschnitt Tobias und ich jetzt zu sehen sein würden, und ich stellte mir vor, wie Quint Tempelhoff und Solo jetzt in den Computer starrten. Der Gedanke an Solo drehte mir den Magen um. Ich wollte nicht, dass er sehen musste, wie ich starb. Ich wollte nicht, dass er litt.
Tobias schob mich noch ein Stück weiter an den Abgrund. »Ihr habt gesehen, dass ich Darling getötet habe«, hörte ich ihn sagen. Seine Stimme bebte und die Worte kamen stockend, als läse er einen undeutlichen Text ab. »Ihr habt gesehen, dass ich sie erwürgt habe, in dieser Höhle. Ein Mord vor der Kamera. Ich habe meinen Vater an der Küste empfangen und dann habe ich ihn in den Bunker geführt. Joker musste sterben, weil er gewusst hatte, was geschehen war. Jetzt soll ich dich töten.«
Tobias hielt inne, eine kleine Ewigkeit lang. Das Rauschen in meinen Ohren hörte auf. Irgendwo im Höhlengang tropfte es, es waren rhythmische, fast muntere Töne. Plick-plock, plick-plick-plock … Dann legten sich Tobias’ Arme fest um meinen Körper und er riss mich mit einem Ruck zurück. Er presste mich gegen die Höhlenwand und sah
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