Ist das Kafka?: 99 Fundstücke (German Edition)
28jährigen Kafka keine neue Erfahrung. Eine ähnliche Verkennung erlebte er noch fast ein Jahrzehnt später (siehe das Fundstück 64).
Kafkas Aufzeichnungen belegen, dass ihn weniger die Sorge um das Geschäft der Eltern als vielmehr die zahlreichen Begegnungen dieses Sonntags noch tagelang beschäftigten.
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Die Tochter des Chefs – ein Albtraum
Eine schreckliche Erscheinung war heute in der Nacht ein blindes Kind scheinbar die Tochter meiner Leitmeritzer Tante die übrigens keine Tochter hat sondern nur Söhne, von denen einer einmal den Fuss gebrochen hatte. Dagegen waren zwischen diesem Kind und der Tochter Dr. Marschners Beziehungen, die, wie ich letzthin gesehen habe, auf dem Wege ist, aus einem hübschen Kind ein dickes steif angezogenes kleines Mädchen zu werden. Dieses blinde oder schwachsichtige Kind hatte beide Augen von einer Brille bedeckt, das linke unter dem ziemlich weit entfernten Augenglas war milchgrau und rund vortretend, das andere trat zurück und war von einem anliegenden Augenglas verdeckt. Damit dieses Augenglas optisch richtig eingesetzt sei, war es nötig statt des gewöhnlichen über das Ohr zurückgehenden Halters, einen Hebel anzuwenden, dessen Kopf nicht anders befestigt werden konnte als am Wangenknochen, so dass von diesem Augenglas ein Stäbchen zur Wange hinuntergieng, dort im durchlöcherten Fleisch verschwand und am Knochen endete, während ein neues Dratstäbchen heraustrat und über das Ohr zurückgieng.
Berta Marschner (1900–1972), an die sich Kafka durch diesen Albtraum erinnert fühlte, war die Tochter von Dr. Robert Marschner, seit 1909 leitender Direktor der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt in Prag und damit Kafkas höchster Vorgesetzter.
Wie aus Äußerungen Kafkas in Briefen und Tagebüchern hervorgeht, wurde er von dem literarisch interessierten Direktor Marschner geschätzt und gefördert, obwohl dieser über die kräftezehrende schriftstellerische Nebentätigkeit seines Angestellten durchaus im Bilde war. So verhinderte Marschner den Kriegseinsatz Kafkas, indem er dessen Wunsch, sich der österreichischen Armee anzuschließen, beharrlich überging und ihn mehrfach als unentbehrliche Fachkraft reklamierte. Mindestens einmal trat Kafka auch als Vortragender im stadtbekannten literarischen Salon von Marschners Ehefrau Emilie auf. Eine engere private Beziehung zu der Familie bestand aber nicht.
Berta Marschner
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Die schöne Tilka
Viel gesehn in der letzten Zeit, weniger Kopfschmerzen. Spaziergänge mit Frl. Reiss. Mit ihr bei »Er und seine Schwester«, von Girardi gespielt. […] In der städtischen Lesehalle. Bei ihren Eltern die Fahne angesehn. Die 2 wunderbaren Schwestern Esther und Tilka wie Gegensätze des Leuchtens und Verlöschens. Besonders Tilka schön: olivenbraun, gewölbte gesenkte Augenlider, tiefes Asien. Beide Shawls um die Schultern gezogen. Sie sind mittelgross, eher klein und erscheinen aufrecht und hoch wie Göttinnen, die eine auf dem Rundpolster des Kanapees, Tilka in einem Winkel auf irgendeiner unkenntlichen Sitzgelegenheit, vielleicht auf Schachteln.
Auch bei Frauen und Mädchen, deren äußere Erscheinung Kafka angenehm war, blieb sein Blick häufig, bisweilen zwanghaft an störenden Einzelheiten hängen. Sein Tagebucheintrag vom 3. November 1915 bietet eines der seltenen Beispiele dafür, dass er von weiblicher Schönheit ganz ohne Vorbehalte fasziniert war.
Die Handschrift zeigt, wie der Eindruck ihn beschäftigte. Denn zunächst schrieb Kafka nur »Die 2 wunderbaren Schwestern.« Dann löschte er den Punkt und ergänzte die Namen Esther und Tilka. Dann tilgte er auch den Punkt hinter »Tilka« und setzte fort: »wie Gegensätze des Leuchtens und Verlöschens.«
Die Schwestern Fanny, Esther und Tilka Reiß gehörten zu einer ostjüdischen Familie aus Lemberg in Galizien, die – wie Tausende andere – vor den russischen Armeen nach Prag geflohen waren. Max Brod unterrichtete solche Mädchen ehrenamtlich, wobei Kafka manchmal als stiller Beobachter zugegen war. Auf diese Weise kam wohl auch sein Kontakt zur Familie Reiß zustande.
Bei der von Kafka erwähnten Fahne dürfte es sich um eine aus Lemberg gerettete Thora-Fahne handeln. Das Theaterstück, das er gemeinsam mit Fanny Reiß in einer Nachmittagsvorstellung des Neuen deutschen Theaters sah, war eine ›Posse mit Gesang‹ von Bernhard Buchbinder, gespielt von Alexander Girardi, dem damals populärsten österreichischen Komödianten.
Tilka
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