Ist das Kafka?: 99 Fundstücke (German Edition)
Reiß
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Rendezvous mit Julie
Liebe, wir haben nicht gewusst, dass Donnerstag Feiertag ist, also verlegen wir es auf Freitag nicht? Es ist doch besser? Freitag um ½ 4 bei der Koruna. Im Vertrauen: ich versäume dadurch eine Hebräischstunde, aber bei Dir würde ich doch auch eine versäumen so kämpft Hebräisch gegen Hebräisch und Deines siegt.
Fr.
Der einzige bislang bekannt gewordene Brief Kafkas an seine Verlobte Julie Wohryzek, der erst im Jahr 2008 bei einer Auktion auftauchte und vom Museum für tschechische Literatur in Prag erworben wurde.
Es handelt sich um einen per Rohrpost versandten Brief, datierbar auf den 18. Juni 1919. In diesem Jahr nahm Kafka Hebräischunterricht unter anderem bei dem Gymnasiallehrer und Zionisten Friedrich Thieberger, der in seinen Erinnerungen darüber berichtet.
Da Julie Wohryzek die Tochter eines ›Schammes‹, eines Synagogendieners war, ist es denkbar, dass auch sie einige Brocken altes Hebräisch noch im Gedächtnis hatte. Wahrscheinlicher aber ist, dass sich Kafkas ironische, wenngleich nicht ganz logische Bemerkung auf die »unerschöpfliche und unaufhaltbare Menge der frechsten Jargonausdrücke« bezog, mit der sie ihn belustigte – aus dem Jiddischen stammende Ausdrücke also, die unter akkulturierten Juden verpönt waren.
Als Ort des Treffens schlägt Kafka das Palais Corona vor (tschechisch: Koruna), ein monumentales Gebäude an der Ecke Graben/Wenzelsplatz, das von einer Passage durchquert wird.
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Kafka meditiert über ein Gemälde
Er erinnert sich an ein Bild, das einen Sommersonntag auf der Themse darstellte. Der Fluss war in seiner ganzen Breite weithin angefüllt mit Booten, die auf das Öffnen einer Schleuse warteten. In allen Booten waren fröhliche junge Menschen in leichter heller Kleidung, sie lagen fast, frei hingegeben der warmen Luft und der Wasserkühle. Infolge alles dieses Gemeinsamen war ihre Geselligkeit nicht auf die einzelnen Boote eingeschränkt, von Boot zu Boot teilte sich Scherz und Lachen mit.
Er stellte sich nun vor, dass auf einer Wiese am Ufer – die Ufer waren auf dem Bild kaum angedeutet, alles war beherrscht von der Versammlung der Boote – er selbst stand. Er betrachtete das Fest, das ja kein Fest war, aber das man doch so nennen konnte. Er hatte natürlich grosse Lust sich daran zu beteiligen, er langte förmlich danach, aber er musste sich offen sagen, dass er davon ausgeschlossen war, es war für ihn unmöglich sich dort einzufügen, das hätte eine so grosse Vorbereitung verlangt, dass darüber nicht nur dieser Sonntag, sondern viele Jahre und er selbst dahingegangen wäre, und selbst wenn die Zeit hier hätte stillstehn wollen, es hätte sich doch kein anderes Ergebnis mehr erzielen lassen, seine ganze Abstammung, Erziehung, körperliche Ausbildung hätte anders geführt werden müssen.
So weit war er also von diesen Ausflüglern, aber damit doch auch wieder sehr nahe und das war das schwerer Begreifliche. Sie waren doch auch Menschen wie er, nichts Menschliches konnte ihnen völlig fremd sein, würde man sie also durchforschen müsste man finden, dass das Gefühl, das ihn beherrschte und ihn von der Wasserfahrt ausschloss, auch in ihnen lebte, nur dass es allerdings weit davon entfernt war sie zu beherrschen, sondern nur irgendwo in dunklen Winkeln geisterte.
Der Tagebucheintrag vom 2. Februar 1920 gehört zu den Selbstreflexionen, die Kafka in der Er-Form niederschrieb – ein Mittel der Distanzierung, zu dem er vor allem nach dem umfangreichen Brief an den Vater vom Herbst 1919 häufiger griff. Offensichtlich handelt es sich auch hier um ein thematisches Echo jenes Briefs.
Bei dem Bild, auf das sich Kafka bezieht, handelt es sich um das 1895 entstandene Ölgemälde Boulter’s Lock, Sunday Afternoon des englischen Malers Edward John Gregory (1850–1909). Das Gemälde wurde zu Kafkas Lebzeiten auch auf dem Kontinent ausgestellt; es ist jedoch nicht bekannt, ob er es im Original oder lediglich als Reproduktion gesehen hat.
Die Schleuse von Boulters Lock (Themse bei Maidenhead, westlich von London) gilt auch heute noch als touristische Attraktion.
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Drei Briefe an den Vater
Kafkas umfangreicher Brief an seinen Vater, den er Mitte November 1919 in Schelesen verfasste, gilt heute als eine der eindrucksvollsten und paradigmatischen Auseinandersetzungen mit dem ›Vater-Problem‹. Weniger bekannt ist, dass es zu diesem Brief einen Vorläufer gibt, den Kafka jedoch schon nach wenigen Seiten aufgab. Im
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