Ist das Kafka?: 99 Fundstücke (German Edition)
mitnehmen wolle, hat den Gürtel aufgesägt und vom Gerippe heruntergerissen. Findet er in einer Dorfkirche eine wertvolle Bibel oder ein Bild oder ein Blatt das er haben will, so reisst er, was er will, aus Büchern, von den Wänden, vom Altar, legt als Gegengabe ein 2hellerstück hin und ist beruhigt. – Liebe zu dicken Weibern. Jede Frau, die er hatte, wird photographiert. Stoss von Photographien, den er jedem Besucher zeigt. Sitzt in der einen Sophaecke, der Besucher, von ihm weit entfernt, in der andern. Pachinger sieht kaum hin und weiss doch immer, welche Photographie an der Reihe ist und gibt danach seine Erklärungen: Das war eine alte Witwe, das waren die zwei ungarischen Dienstmädchen u.s.w.
Kafka und Max Brod lernten den aus Linz stammenden Anton Maximilian Pachinger (1864–1938) durch Vermittlung von Alfred Kubin kennen. Der Privatier Pachinger, der vom elterlichen Erbe lebte, war ein manischer Sammler, der volkskundliche Bücher und Aufsätze publizierte und auch Vorträge hielt. Pachinger sammelte buchstäblich alles: von Türbeschlägen bis zu Gebetbüchern, von gynäkologischen Schriften bis zu Wallfahrtsmedaillen, von Strumpfbändern bis zu historischen Fotografien.
Kafkas ausführliche Notizen zu Pachinger sind bemerkenswert, da er sich über sexuelle Themen sonst niemals derart drastisch äußert. Dass er fasziniert ist, ist offensichtlich – allerdings nicht nur von Pachingers erotischer Besessenheit, sondern mehr noch von dessen unreflektierter und bedenkenloser Zielstrebigkeit. Menschen, die sich auf diese Weise ›ausleben‹ und dadurch auch lebenslang definieren, beobachtete Kafka von jeher mit besonderer und auch bewundernder Aufmerksamkeit.
Wie der Kontext in Kafkas Tagebuch nahelegt, geht die Notiz von 1914 wahrscheinlich nicht auf eine weitere Begegnung mit Pachinger zurück, sondern auf einen detaillierten Bericht Kubins.
Als skurrile Figur erscheint Pachinger auch mehrfach in den Werken von Fritz von Herzmanovsky-Orlando.
Anton Pachinger, 1898
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Bei den Dirnen
Kisten tragen und abstauben, denn wir übersiedeln das Geschäft, kleines Mädchen, sehr wenig Lernen, Dein Buch, Dirnen, Macaulay »Lord Clive«; auch so ergibt sich ein Ganzes
Karte an Max Brod, 27. Mai 1906
Wir könnten statt unseres geplanten Nachtlebens von Montag zu Dienstag ein hübsches Morgenleben veranstalten, uns um 5 Uhr oder ½ 6 bei der Marienstatue treffen – bei den Weibern kann es uns dann nicht fehlen – und ins Trokadero oder nach Kuchelbad gehn oder ins Eldorado. Wir können dann, wie es uns passen wird im Garten an der Moldau Kaffee trinken oder auch an die Schulter der Josci gelehnt. Beides wäre zu loben.
Brief an Max Brod, 29. März 1908
nur dein Buch, das ich jetzt endlich geradenwegs lese, tut mir gut. So tief im Unglück ohne Erklärung war ich schon lange nicht. Solange ich es lese, halte ich mich daran fest, wenn es auch gar nicht Unglücklichen helfen will, aber sonst muss ich so dringend jemanden suchen, der mich nur freundlich berührt, dass ich gestern mit einer Dirne im Hotel war. Sie ist zu alt, um noch melancholisch zu sein, nur tut ihr leid, wenn es sie auch nicht wundert, dass man zu Dirnen nicht so lieb wie zu einem Verhältnis ist. Ich habe sie nicht getröstet, da sie auch mich nicht getröstet hat.
Brief an Max Brod, 29./30. Juli 1908
Ich gieng an dem Bordell vorüber, wie an dem Haus einer Geliebten.
Tagebuch, 1909
[Paris:] Rationell eingerichtete Bordelle. Die reinen Jalousien der grossen Fenster des ganzen Hauses herabgelassen. In der Portierloge statt eines Mannes ehrbar angezogene Frau, die überall zu Hause sein könnte. Schon in Prag habe ich immer den amazonenmässigen Charakter der Bordelle flüchtig bemerkt. Hier ist es noch deutlicher. Der weibliche Portier der sein elektr. Läutewerk in Bewegung setzt, der uns in seiner Loge zurückhält, weil ihm gemeldet wird, dass gerade Gäste die Treppe herabkommen, die zwei ehrbaren Frauen oben (warum zwei?) die uns empfangen, das Aufdrehen des elektr. Lichtes im Nebenzimmer in dem die unbeschäftigten Mädchen im Dunkel oder Halbdunkel sassen, der ¾ Kreis (wir ergänzen ihn zum Kreis) in dem sie um uns in aufrechten auf ihren Vorteil bedachten Stellungen stehn, der grosse Schritt, mit dem die Erwählte vortritt, der Griff der Madame mit dem sie mich auffordert … ich mich zum Ausgang gezogen fühle. Unmöglich mir vorzustellen wie ich auf die Gasse kam, so rasch war es. Schwer ist die Mädchen dort
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