Ist Gott ein Mathematiker
in dem Begriff des Schicksals in der griechischen Tragödie. Noch bis weit in die Renaissance hinein hielt sich – bar jedes konkreten Beweises dafür – der feste Glaube an das Vorhandensein eines Gefüges aus Gesetzen, mit denen sich sämtliche Phänomene würden erklären lassen; erst Galilei, Descartes und Newton machten daraus eine These, die sich durch induktive Beweisführung verteidigen ließ.
Ein weiterer wesentlicher Beitrag, der den Pythagoreern zuzuschreiben ist, war die ernüchternde Entdeckung, dass ihre «Zahlenreligion»in der Realität bedauerliche Mängel aufwies. Die ganzen Zahlen 1, 2, 3, … reichen nämlich nicht einmal für einfachste mathematische Konstruktionen, von der Beschreibung des Universums gar nicht zu reden. Werfen Sie einen Blick auf das Quadrat in Abbildung 6, bei dem die Länge einer Seite jeweils die Einheit eins hat, die Länge der Diagonalen haben wir mit
d
bezeichnet. Mit Hilfe des Satzes von Pythagoras lässt sich die Länge der Diagonalen, die das Quadrat in zwei Dreiecke teilt, problemlos aus jedem der beiden Dreiecke bestimmen. Dem Lehrsatz zufolge ist das Quadrat über der Diagonalen (der Hypotenuse) gleich der Summe der Quadrate über den beiden kurzen Seiten (den beiden Kathetenquadraten), in diesem Falle also
d
2 = 1 2 + 1 2 oder
d 2
= 2. Wenn Sie das Quadrat einer positiven Zahl kennen, bestimmen Sie die Zahl selbst, indem Sie die Quadratwurzel daraus ziehen (angenommen
x 2
= 9, dann lautet der positive x-Wert
x
== 3). Aus
d
2 = 2 folgt somit
d
=. Das aber war ein echter Schock – eine Entdeckung, die die akribische Konstruktion der pythagoreischen auf diskreten natürlichen Zahlen begründeten Zahlenphilosophie in ihren Grundfesten erschütterte. Einem aus den Reihen der Pythagoreer (möglicherweise war es Hippasos von Metapont, der in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. wirkte) gelang es zu beweisen, dass sich die Quadratwurzel aus 2 nicht als Verhältnis zweier ganzer Zahlen darstellen lässt. Mit anderen Worten: Selbst wenn wir eine Unendlichkeit an ganzen Zahlen zur Verfügung haben, ist die Suche nach zwei Zahlen, deren Verhältnis zueinanderergibt, von Anbeginn an zum Scheitern verurteilt. Zahlen, die sich (wie 3/17, 2/5, 1/10, 6/1) alsVerhältnis zweier ganzer Zahlen darstellen lassen, nennt man
rationale Zahlen.
Die Pythagoreer bewiesen, dasskeine rationale Zahl ist. Ja, bald nach dieser Entdeckung realisierte man auch, dass wedernoch, noch die Quadratwurzel irgendeiner anderen Zahl, die selbst keine Quadratzahl (wie 16 oder 25) darstellt, eine rationale Zahl ist. Die Konsequenzen aus dieser Erkenntnis waren dramatisch: Die Pythagoreer zeigten, dass wir gezwungen sind, der Unendlichkeit der rationalen Zahlen eine weitere Unendlichkeit einer neuen Art von Zahlen hinzuzufügen – solche, die wir heute als
irrationale Zahlen
bezeichnen. Die Bedeutung dieser Entdeckung für die nachfolgende Entwicklung der Mathematik kann nicht genug betont werden. Unter anderem führte sie im 19. Jahrhundert zu der Erkenntnis, dass es «abzählbare» und «nichtabzählbare» Unendlichkeiten gibt. Die Pythagoreer aber waren von dieser Krise ihrer Philosophie dermaßen erschüttert, dass sie, wie der Philosoph Iamblichos berichtet, den Mann, der die irrationalen Zahlen entdeckt und ihre Beschaffenheit auch jenen enthüllt hatte, die «nicht würdig waren, an den Lehren teilzuhaben …, so tief verabscheut haben, daß sie ihn nicht nur aus der Lehr- und Lebensgemeinschaft ausschlossen, sondern ihm auch ein Grabmal errichteten mit der Begründung, ihr einstiger Gefährte sei aus dem Leben unter Menschen ausgeschieden».
Abbildung 6
Wichtiger vielleicht als die Entdeckung der irrationalen Zahlen war die revolutionär neue Hinwendung der Pythagoreer zum mathematischen Beweis – einem Vorgehen, bei dem sich, ausgehend von gewissen Axiomen oder Aussagen, die Gültigkeit eines mathematischen Satzes einzig auf logischen Schlussfolgerungen beruhend, zweifelsfrei nachweisen ließ. Vor den Griechen hatten nicht einmal die Mathematiker erwartet, dass jemand sich auch nur im Geringsten für die mentalen Anstrengungen interessieren würde, die sie zu einer bestimmten Entdeckung veranlasst hatten. Wenn ein mathematisches Rezept in der Praxis funktionierte – zum Beispiel beim Aufteilen von Landparzellen –, war das Beweis genug. Die Griechen hingegen wollten wissen, warum es funktionierte. Mag auch der Begriff Beweis bereits von dem Philosophen Thales von Milet (ca.
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