Ist Gott ein Mathematiker
Speusippos wurde sein Nachfolger. Im Unterschied zu denakademischen Institutionen unserer Tage war die Akademie ein eher informeller Zusammenschluss von Intellektuellen, die unter Platons Führung eine Fülle an Interessen verfolgten. Es gab keine Unterrichtsgebühren, keinen festgeschriebenen Lehrplan, noch nicht einmal echte Fakultätsmitglieder. Dennoch muss es offenbar eine einigermaßen ungewöhnliche «Aufnahmebedingung» gegeben haben. Einer Festansprache des römischen Kaisers Julian des Apostaten zufolge, der im 4. Jahrhundert n. Chr. lebte, hing über dem Eingang zu Platons Akademie eine nicht unbedingt einladende Inschrift. Zwar findet sich der Wortlaut dieser Inschrift im Text der Lobrede nicht, aber in einer Randnotiz aus dem 4. Jahrhundert n. Chr. wird sie in etwa mit den Worten zitiert: «Lasst keinen der Geometrie Unkundigen eintreten.» Da zwischen der Gründung der Akademie und der ersten Erwähnung dieser Inschrift acht Jahrhunderte liegen, können wir nicht allzu sichersein, dass es sie wirklich gegeben hat. Kein Zweifel besteht jedoch darüber, dass die Haltung, die in dieser Forderung durchschimmert, Platons persönlicher Ansicht entspricht. In einem seiner berühmten Dialoge,
Gorgias,
schreibt Platon, «dass die geometrische Gleichheit eine große Macht ist unter Göttern und Menschen».
Abbildung 7
Die Schüler an jener Akademie sorgten im Allgemeinen für sich selbst, und einige von ihnen – darunter der große Aristoteles – blieben zwanzig Jahre dort. Platon betrachtete diesen langfristigen Austausch zwischen kreativen Köpfen als das beste Mittel, zu neuen Ideen zu gelangen, und die Themen spannten dabei einen Bogen von der Metaphysik und der Mathematik bis hin zu Ethik und Politik. Auf dem Gemälde
Die Schule von Platon
des belgischen Malers Jean Delville (1867–1953), einem Vertreter des Symbolismus, sieht man Platons Schüler in beinahe göttlicher Reinheit: wunderschöne Gestalten, mit überirdischen Attributen ausgestattet. Um das Gelehrt-Vergeistigte der Schüler zu unterstreichen, malte Delville sie unbekleidet, sie wirken androgyn, was als ursprünglicher Zustand des Menschen galt.
Mich hat schwer enttäuscht, dass die Archäologen nie imstande waren, die Überreste von Platons Akademie zu finden. Auf einer Reise nach Griechenland im Sommer 2007 begnügte ich mich daher mit dem Nächstbesten: Platon erwähnt die Stoa des Zeus Eleutherios, einen überdachten Wandelgang aus dem 5. Jahrhundert v. Chr., als seinen Lieblingsort zum Reden mit Freunden. Also habe ich die Überreste dieser Säulenhalle im Nordwesten des alten «Marktplatzes», der Agora, zu Platons Zeiten Zentrum des bürgerlichen Lebens von Athen, besichtigt (siehe Abbildung 8) und muss gestehen, dass mir, als ich den Weg entlangschlenderte, der Hunderte, wenn nicht gar Tausende von Malen von diesem großen Mann beschritten worden sein muss, ein leichter Schauer den Rücken hinunterlief, obwohl die Temperatur an diesem Tag mindestens 45 Grad Celsius betrug.
Die legendäre Inschrift über Platons Akademie kündet deutlich von Platons Einstellung zur Mathematik. Und wirklich wurde der größte Teil der wichtigeren mathematischen Forschungen des 4. Jahrhunderts von Leuten unternommen, die in irgendeiner Weise mit der Akademie assoziiert waren. Dennoch war Platon selbst kein Mathematiker von großem technischem Geschick, und sein unmittelbarerBeitrag zur Mathematik war vermutlich recht gering. Vielmehr war er ein hingebungsvoller Zuhörer, eine Quelle der Motivation und des Ansporns, ein intelligenter Kritiker und ein inspirierender Mentor. Der Philosoph und Historiker Philodemos malte im 1. Jahrhundert ein klares Bild der Situation: «Zu jener Zeit war großer Fortschritt in der Mathematik zu sehen, da Platon als Vordenker Probleme zu umreißen verstand und die Mathematiker darangingen, sie ernstlich zu untersuchen.» Und der Philosoph und Mathematiker Proklos schwärmte: «Platon … brachte die Mathematik im Allgemeinen und die Geometrie im Besonderen weit voran durch seine Leidenschaft für diese Studien. Es ist nur zu bekannt, dass seine Schriften über und über mit mathematischen Ausdrücken gespickt sind und dass er allerorten versucht, unter den Schülern der Philosophie Begeisterung für die Mathematik zu wecken.» Mit anderen Worten: Platon, dessen mathematisches Wissen im Großen und Ganzen als auf der Höhe seiner Zeit gelten kann, konnte mit Mathematikern auf Augenhöhe diskutieren und war, obwohl
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