Ist Gott ein Mathematiker
Fixsterne entgegengesetzt war. Diesen leidenschaftlichen Beobachtern des mitternächtlichen Himmels konnten selbstredend auch die auffälligsten Eigenschaften der einzelnen Sternbilder dort oben nicht entgangen sein – Gestalt und Anzahl. Jedes Sternzeichen ist erkennbar an der Zahl der Sterne, aus denen es besteht, und an der geometrischen Anordnung, der die Sterne darin gehorchen. Diese beiden Merkmale aber trafen genau ins Mark der pythagoreischen Zahlenlehre, wie die Tetraktys beispielhaft zeigt. Die Pythagoreer waren derart entzückt von den vielfältigen Beziehungen zwischen geometrischen Figuren, Sternkonstellationen, musikalischen Harmonien und Zahlen, dassZahlen für sie einerseits den Stoff bildeten, aus dem das Universum und alles Seiende bestand, andererseits aber auch die Prinzipien (Bestimmtheiten und Zustände) definierten, die das Seiende lenken. Zahlen und Proportion galten ihnen als das «Erste, deren Natur sich durch alle Dinge hindurchzieht». Kein Wunder also, dass Pythagoras’ Maxime lautete: «Alles ist Zahl.»
Aus zwei Aussagen von Aristoteles geht hervor, wie ernst die Pythagoreer diese Maxime nahmen. In seiner
Metaphysik
erklärt Aristoteles an einer Stelle: «Zu dieser Zeit, aber auch schon vorher, beschäftigten sich die sogenannten Pythagoreer als Erste mit der Mathematik, bauten sie weiter aus und waren, da sie sich mit ihr sehr auseinandergesetzt hatten, der Meinung, daß in ihren Prinzipien die Prinzipien der Dinge gelegen seien.» An anderer Stelle beschreibt Aristoteles anschaulich die Verehrung von Zahlen und die besondere Rolle der Tetraktys: «Wie Eurytos [ein Schüler des Pythagoreers Philolaos] festlegte, welches die Zahl von etwas sei, wie etwa dies die Zahl des Menschen und jenes die Zahl des Pferdes, wobei er wie diejenigen, die die Zahlen auf dreieckige und viereckige Figuren zurückführen, ebenso mit Steinchen die Gestalt von Lebenden nachbildete.» «Dreieckige und viereckige Figuren» – beides trifft auf die Tetraktys zu, dazu auf eine weitere faszinierende pythagoreische Konstruktion – das Winkelmaß (ein rechter Winkel oder Gnomon).
Das Wort «Gnomon» («Zeiger») leitet sich von einem babylonischen Gerät zur Zeitmessung her, das wie eine Sonnenuhr funktioniert. Dieser Apparat wurde offenbar von Pythagoras’ Lehrer – dem Naturphilosophen Anaximander (ca. 611–547 v. Chr.) – in Griechenland eingeführt, und es besteht kein Zweifel, dass der Schüler hinsichtlich der Geometrie und ihrer Anwendung in der
Kosmologie –
dem Studium des Universums in seiner Gesamtheit – von den Vorstellungen seines Lehrers beeinflusst worden ist. Später wurde der Begriff «Gnomon» für ein Instrument verwendet, mit dem sich – ähnlich wie mit einem Zimmermannswinkel – rechte Winkel auftragen ließen, und auch für die rechtwinklige Ergänzung, die aus einem Quadrat ein größeres Quadrat macht (siehe Abbildung 2): Wenn Sie zu einem Quadrat aus 3 × 3 Steinchen sieben Steinchen addieren, die in einem rechten Winkel (einem Gnomon) zu einer Reihe angeordnet sind, erhalten Sie ein Quadrat aussechzehn (4 × 4) Steinchen. Es handelt sich dabei um die figurierte Darstellung der folgenden Gegebenheit: In der Folge der ungeraden ganzen Zahlen 1, 3, 5, 7, 9, … ergibt die Summe aus zwei aufeinanderfolgenden Elementen (von 1 ausgehend) stets eine Quadratzahl. Zum Beispiel: 1 = 1 2 , 1 + 3 = 4 = 2 2 , 1 + 3 + 5 = 9 = 3 2 , 1 + 3 + 5 + 7 = 16 = 4 2 , 1 + 3 + 5 + 7 + 9 = 25 = 5 2 und so weiter. Die Pythagoreer betrachteten diese enge Beziehung zwischen dem Gnomon und dem Quadrat, an das es «sich anschmiegt», als ein Symbol für das Wissen im Allgemeinen: Auch der Wissende sucht die intime Nähe zum Wissen. Die Macht der Zahl schien daher nicht beschränkt auf eine Beschreibung der physikalischen Welt, sondern bildete auch die Grundlage mentaler und emotionaler Prozesse.
Abbildung 2
Auf die mit dem Gnomon assoziierten Quadratzahlen gründet sich vermutlich auch der berühmte
Satz des Pythagoras.
Dieses gefeierte Stück Mathematik besagt, dass ein Quadrat, das man über der Grundseite oder Hypotenuse eines beliebigen rechtwinkligen Dreiecks zeichnet, in seiner Fläche gleich der Summe der Fläche derQuadrate über den beiden kürzeren Seiten oder Katheten ist (siehe dazu Abbildung 3). Die Entdeckung dieses Satzes wird recht hübsch nachempfunden in dem berühmten Frank-and-Ernest-Cartoon aus Abbildung 4. Wie der Gnomon in Abbildung 2 zeigt, ergibt sich durch das Hinzufügen
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