Ist Gott ein Mathematiker
übrigens nicht auf das antike Griechenland. Die beiden chinesischen Prinzipien Yin und Yang – bei denen Yin für alles Schattige und Dunkle, Yang hingegen für das Helle und Warme steht – reflektieren dasselbe Bild. Dem nicht allzu unähnlich ist die Weltsicht, die als Vorstellung von Himmel und Hölle ins Christentum übernommen wurde (und sogar Eingang gefunden hat in die Verlautbarungen amerikanischer Staatspräsidenten, die Dinge sagen wie «You are either with us, or you are with the terrorists» – «Wenn Sie nicht auf unserer Seite stehen, dann stehen Sie auf der der Terroristen»). Allgemeiner gesagt, es war schon immer so, dass die Bedeutung des Lebens durch den Tod und die Bedeutung von Wissen durch das Unwissen an Klarheit gewinnt.
Nicht alle pythagoreischen Lehren hatten unmittelbar mit Zahlen zu tun. Zur Lebensweise der eingeschworenen pythagoreischen Gemeinschaft gehörten einigen Berichten zufolge auch der Vegetarismus, ein starker Glaube an die Metempsychose – die Unsterblichkeit der Seele und die Seelenwanderung – und ein – allerdings nicht zweifelsfrei erhärtetes – etwas rätselhaftes Verbot, Bohnen zu verzehren. Für das Bohnengebot sind die verschiedensten Erklärungen bemüht worden. Sie reichen von einer vermeintlich empfundenen Ähnlichkeit zwischen Bohnen und Genitalien bis hin zum Vergleich des Bohnenessens mit dem Verzehr von lebenden Seelen. Letztere betrachtete wohl die Winde, die das Bohnenessen häufig mit sich bringt, als Beleg für den ausgehauchten Odem eines Geschöpfs.
Die älteste überlieferte Anekdote über Pythagoras handelt von dem Glauben an die Reinkarnation der Seele in anderen Lebewesen. Folgende fast schon poetische Erzählung stammt von dem Dichter Xenophanes von Kolophon: «Sie sagen, er [Pythagoras] sei einst darüber zugekommen, als ein Hund geschlagen wurde, und habe voller Mitleid gesagt: ‹Halt ein und schlage ihn nicht, denn seine Seele ist die eines Freundes, ich weiß es, denn ich habe sie sprechen gehört.›»
Pythagoras hat seinen unverwechselbaren Fingerabdruck nicht nur in den Lehren der griechischen Philosophen, die unmittelbar nach ihm kamen, hinterlassen, sondern dieser blieb bis in die Lehrpläne der mittelalterlichen Universitäten hinein erhalten. Die sieben Fächer, die dort gelehrt wurden – die «sieben freien Künste» –, waren unterteilt in ein sogenanntes
Trivium
aus Dialektik, Grammatik und Rhetorik und das
Quadrivium,
das die Lieblingsgebiete der Pythagoreer umfasste: Geometrie, Arithmetik, Astronomie und Musik. Die himmlische «Harmonie der Sphären» – jene Musik, die die Planeten auf ihrenUmlaufbahnen erzeugen sollten und die, so sagen es seine Schüler, nur Pythagoras hören konnte, hat Dichter und Forscher gleichermaßen inspiriert. Der berühmte Astronom Johannes Kepler (1571–1630, der die Gesetze der Planetenbewegungen entdeckt hat, wählte für eines seiner bedeutendsten Werke den Titel
Harmonice Mundi
(«Kosmische Harmonie»). Ganz im pythagoreischen Geiste entwickelte er für die einzelnen Planeten sogar kleine musikalische «Themen» (genau wie der Komponist Gustav Holst drei Jahrhunderte später).
Wenn wir die pythagoreische Philosophie ihres mystischen Überwurfs entkleiden, bleibt ein Skelett übrig, das im Hinblick auf die Fragestellung dieses Buches noch immer Wichtiges über die Mathematik, ihr Wesen und ihre Beziehung zur physikalischen Welt einerseits und zum menschlichen Geist andererseits zu sagen hat. Pythagoras und die Pythagoreer waren die Urväter der Suche nach einer kosmischen Ordnung. Man kann sie als die Begründer der reinen Mathematik betrachten, weil sie sich im Unterschied zu ihren Vorgängern – den Babyloniern und Ägyptern – ungeachtet möglicher praktischer Anwendungen der Mathematik als abstraktem Gebiet widmeten. Die Frage, ob die Pythagoreer die Mathematik auch als wissenschaftliches Werkzeug etabliert haben, ist schon etwas kniffliger zu beantworten. Gewiss haben sie alle Phänomene mit Zahlen in Zusammenhang gebracht, doch zum Zentrum ihrer Studien wurden immer mehr die Zahlen selbst – nicht die Phänomene oder deren Ursachen. Für die wissenschaftliche Forschung war dies keine übermäßig fruchtbare Richtung. Dennoch: Grundlegend für die pythagoreische Lehre war der implizite Glaube an das Vorhandensein allgemeingültiger Naturgesetze. Dieser Glaube, der zum zentralen Stützpfeiler moderner Wissenschaft geworden ist, hat seine Wurzeln, wie man annimmt, möglicherweise
Weitere Kostenlose Bücher