Istanbul: Ein historischer Stadtführer
Korantexte. Man muss auch hervorheben, dass bis zur Tanzîmât-Zeit (1839–1876) in den Stiftungsschulen das osmanische Türkisch nicht unterrichtet wurde. Schreib- und Lesekenntnisse in derStaatssprache erwarb man durch Privatlehrer oder –
learning-by-doing
– in den Kanzleien der Hohen Pforte bzw. Provinzverwaltungen. In der
Mekteb
wurde jeden Tag ein bestimmter Abschnitt des Korans durchgenommen und am Ende durch ein Stückchen Wachs auf der Tafel oder im Buch markiert. Das Ideal war selbstverständlich die vollständige Lektüre des Korans.
Ein in den osmanischen Schulen gepflegtes Ritual hing mit dem Erreichen des siebten und achten Verses der 94. Sure zusammen: «Wenn du nun mit etwas fertig bist, dann (bleib nicht untätig, sondern wende dich einer neuen Aufgabe zu und) mühe dich ab (auch wenn du dabei in Schwierigkeiten gerätst). Sie werden nicht unüberwindlich sein, und du wirst es nachher wieder leichter bekommen. Und stell dein Verlangen (ganz) auf deinen Herrn ein.» War der Knabe an dieser Stelle angelangt, ergriff der Schuldiener den Fes des Kindes und hängte ihm eine gestickte Korantasche um. Der Schuldiener brachte das Kind dann nach Hause. Die Passanten erkannten an der Tasche, dass es sich um einen frischgebackenen Koranleser handelte, und gratulierten mit bewunderndem «Was Gott gewollt hat!»
(Maşallah)
Dem Hodscha wurde von der Familie ein Geschenk gesandt.
Nur wenige Lehrer der Stadtviertelschulen konnten freilich mit den Anforderungen der neuen Zeit Schritt halten. Eine Reform des Stiftungswesens blieb in bescheidenen Ansätzen stecken. Der Staat wagte nur den Aufbau eines modernen Sekundarsystems. So blieb die Elementarschule bis zu den kemalistischen Reformen ein Symbol zivilisatorischer Rückständigkeit und religiöser Beschränktheit.
Ömers Kindheit
Muallim Nâcî (1849/50–1893) hat als erster Schriftsteller die Stadtviertelschule zum Thema gemacht. Obwohl sein Buch «Ömers Kindheit» heißt, handelt es sich um eine autobiographische Erzählung aus den Jahren gegen Ende des Krimkriegs (ca. 1855). Der Autor schildert, wie er allmorgendlich vom Schuldiener abgeholt wurde, von seiner Angst vor den Straßenhunden und den Streichen des ungeratenen Onkels Tâhir. Der Schulalltag war unerfreulich. Um die Abc-Schützen kümmerten sich nur die älteren Schüler. Der Hodscha hatte seine traditionellen Verfahren, um die Fortgeschritteneren unter ihnen zu examinieren:
Die Zöglinge wurden ihm in folgender Weise vorgeführt: Der Schüler setzte sich, nachdem er nach vorne gegangen war. Er legte dann den (durchgenommenen) Koranabschnitt bzw. sein Blatt auf das Pult vor dem Hodscha Efendi. Der Gehilfe kniete sich dicht neben ihn mit allen Anzeichen höchster Aufmerksamkeit, denn wenn der Schüler einen Fehler machte, sauste der Stock ohne Wenn und Aber auf seine Schultern nieder.
Das Wichtigste lernte Ömer allerdings nicht von dem starrsinnigen Lehrer, sondern von seinem Bruder, nicht zuletzt die Haltung beim Schreiben und das Lesen türkischer Texte:
Er brachte mir bei, wie man die Finger anordnet und das Schreibrohr richtig hält. In unserer Schule wurde Kindern wie uns durchaus kein Unterricht im Türkischen erteilt. Obwohl ich den gesamten heiligen Koran bis zum Ende durchgenommen habe, las ich auf der Schule kein einziges türkisches Wort.
Im Haus fand sich ein gedruckter türkischer «Katechismus» (
ilm-i hâl
) und die berühmte Abhandlung des Birgivî, eines bekannten Theologen aus dem 16. Jahrhundert. Der tiefgläubige Vater, ein einfacher Sattlermeister (der auf dem Totenbett bekennen wird: «Eigentlich wollte ich als Märtyrer sterben!»), las mit Ömer die ersten Verse der 86. Sure: «Beim Himmel und bei dem, der sich bei Nacht einstellt! Aber wie kannst du wissen, wer das ist, der sich bei Nacht einstellt? Es ist der hell aufleuchtende Stern. Es gibt niemand, über den nicht ein Hüterengel eingesetzt wäre (um seine Taten zu verzeichnen) …» Die erste Koranlektüre löst bei Ömer eine tiefe Wirkung aus:
Mein Herz wurde von einem merkwürdigen Gefühl erfaßt. Es war aber weder Freude noch Trauer. Nachdem ich dem Heiligen Buch durch Küssen und An-die-Stirn-Führen förmlich Respekt erwiesen hatte, steckte ich es in seine Hülle zurück und brachte es an seinen Platz.
Die Erzählung von Ömers Kindheit zeigt uns, dass die Stadtviertelschule selbst für die religiöse Sozialisation der Kinder kein «Monopol» beanspruchen konnte. Die Bildung des jungen Ömer wird
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