Istanbul: Ein historischer Stadtführer
Istanbul gratulierten einander, erfüllt von Heiterkeit und Freude über den Fall der Despotie.
Süleymân Pascha endet seinen Augenzeugenbericht, der übrigens erst 1910 veröffentlicht werden konnte, mit einigen Seiten aus der Diskussion führender Staatsmänner, ob die Zeit reif für eine Verfassung sei. Der geistesschwache Murâd blieb nur wenige Monate auf dem Thron. Noch im selben Jahr 1876 wurde er durch seinen Bruder Abdülhamîd ersetzt. Der im nächsten Abschnitt geschilderte «Vorfall» von Çırağan zeigt, dass auch der Übergang auf Abdülhamîd nicht fugenlos verlief. Abdülazîz nahm sich am 4. Juni 1876 im Çırağan-Palast das Leben.
Der «Vorfall» von Çırağan
Der Çırağan-Palast war das Werk von Sultan Abdülazîz und entstand an der Stelle mehrerer Vorgänger zwischen 1863 und 1871. Abdülazîz hat seinen Palast jedoch nur kurz bewohnt. Mit der Begründung, er sei ihm zu «feucht», kehrte er nach Dolmabahçe zurück. Als Abdülhamîd II. 1876 an Stelle seines älteren Bruders Murâd inthronisiert wurde, wies man dem abgesetzten Sultan den Çırağan-Palast zu. Er wurde zum Schauplatz eines, seinerzeit auch von der europäischen Presse, viel besprochenen Ereignisses, des «Vorfalls von Çırağan» am 20. Mai 1878.
Die Mutter des wegen geistiger Defizite abgesetzten Sultans, Şevkefzâ Kadın, unternahm alles in ihren Kräften Stehende, um die Legitimität Abdülhamîds zu erschüttern und ihren Sohn Murâd wieder auf den Thron zu bringen. Sie bemühte sich erfolglos, den damals Fünfunddreißigjährigen aus seinem Palast zu entführen. Ihr Ziel rückte allem Anschein näher, als ein radikaler Patriot namens Alî Suâvî Efendi, dessen demagogische Artikel das frühere Regime erheblich beunruhigt hatten, nach Istanbul zurückgekehrt war. Alî Suâvî war im Gegensatz zu anderen «jungosmanischen» Oppositionellen kein Produkt der modernen Hochschulen. Er hatte die Medrese besucht und sich als Lehrer an staatlichenSchulen in Filibe (Plovdiv) und Sofia betätigt. Nach seinem Exil wurde er von Abdülhamîd II. mit der Leitung der Eliteschule Galatasarayı betraut (1877). Mit dem Ausbruch des russisch-türkischen Krieges entfremdete er sich dem Sultan. Nach der Kapitulation (Vorfrieden von San Stefano am 2. März 1878) und dem Waffenstillstand mit Russland schien das osmanische Europa verloren. Alî Suâvî erhoffte sich von Murâd V. eine Revision der Abkommen. Am 19. Mai kündigte er in einem an die Zeitung
Basîret
gerichteten Brief bedeutende Ereignisse an:
Abb. 28: Çırağan-Palast (1863–1871)
Die gegenwärtigen Schwierigkeiten sind groß, doch ist ein Ausweg aus ihnen sehr leicht. In unserer morgigen Ausgabe werde ich diesen Ausweg, mit allgemeiner Billigung, kurz und knapp erläutern und bekanntgeben. Mein heutiges Schreiben wurde verfasst, um die allgemeine Aufmerksamkeit auf die morgige Ausgabe zu lenken.
Mit diesen Zeilen wurde nichts weniger als ein Putsch angekündigt. Alî Suâvî besaß eine große Anhängerschaft unter den Flüchtlingen, die sich vor der russischen Armee und bulgarischen Freischärlern nach Istanbul gerettet hatten. Hunderte von ihnen versammelten sich am nächsten Tag zunächst bei der Mecîdîye-Moschee (am unteren Eingang zum Yıldız-Park) vor oder besser hinter dem Çırağan-Palast, weil es sich um einen Uferpalast handelt. Als der Verschwörer von Üsküdar aus mit weiteren Anhängern auf Schiffen eintraf, konnten die Palastwachen von der Land- und Seeseite überwältigt werden. Alî Suâvî eilte mit einigen Männern in den zweiten Stock, wo Murâd im angekleideten Zustand auf sie wartete. Inzwischen hatte der Kommandant des Wachlokals von Beşiktaş, ein in die Geschichte eingegangener Offizier namens Hasan Ağa, mit einigen Soldaten den Palast umzingelt und war selbst ins Innere geeilt, wo ihm Alî und Murâd V. entgegenkamen. Ohne zu überlegen, schlug er Alî Suâvî mit einer Keule zu Boden. Der Führer der Revolte starb an Ort und Stelle, weitere 23 Personen ließen in den anschließenden Kämpfen ihr Leben.
Nach dem «Vorfall von Çırağan» wurden Murâd und seine Familie im sogenannten Malta Köşkü im Garten des Yıldız Sarayı inhaftiert (heute dient der Kiosk, dessen Namengebung nie zufriedenstellend gedeutet wurde, als elegantes Teehaus). Parallel zu dem gescheiterten Putsch organisierte ein Istanbuler Großmeister einer Freimaurerloge, der Grieche Cleanti Scaglieri, mit einem Beamten der Stiftungsverwaltung namens Azîz Bey ein
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