Istanbul: Ein historischer Stadtführer
Komitee, das ebenfalls die Wiedereinsetzung Murâds zum Ziel hatte. Ob die Scaglieri-Azîz-Leute mit Alî Suâvî in Verbindung standen,konnte bis heute nicht geklärt werden. Am Ende durfte Murâd V. den Çırağan-Palast wieder beziehen und ist dort auch 1904 gestorben.
Die immer wieder geplanten Versuche, Abdülhamîd II. zu stürzen, waren erst 1908 erfolgreich. Schon zuvor wurde die von ihm 1877 suspendierte Abgeordnetenkammer wieder gewählt. Für das neue osmanische Parlament bot sich der seit 1904 leerstehende Çırağan-Palast an. Die zweite Sitzungsperiode wurde am 14. November 1909 eröffnet. Wenig später, am 19. Januar 1910, brannte das Gebäude, vermutlich wegen eines elektrischen Kontakts, bis auf die Grundmauern aus. Die Verwendung durch eine Hotelgruppe hat wenigstens die Fassaden und die Torbauten des letzten großen Uferserails gesichert.
XVII.
Stätten der Bildung
Ein ganzes Buch ließe sich über die Istanbuler Stadtviertelschulen, ihre Stifter und Stifterinnen und prominenten Schüler schreiben. Hier kann nur dafür geworben werden, wenigsten die besser erhaltenen wahrzunehmen. Weder bei Muslimen noch Nichtmuslimen darf man in den Irrtum verfallen, das Ziel des traditionellen Unterrichts sei der Erwerb einer «Kulturtechnik» gewesen. Lesen und Auswendiglernen der Offenbarungsschriften von Muslimen, Christen und Juden waren das Ziel jedes elementaren Unterrichts. Ob die häufig genannte Zahl von 80–90 % Analphabeten für die Jahrzehnte vor Einführung der Lateinschrift (1928) realistisch ist, kann hier nicht beantwortet werden. Die herkömmliche
Mekteb
der Muslime, bei der die Alphabetisierung über die Koranlektüre erfolgte, wurde erst im 19. Jahrhundert durch modernisierte staatliche Schulen ergänzt bzw. ersetzt. Im letzten Jahrhundert des Reichs nutzten immer mehr Muslime auch die Angebote christlicher Schulen auf osmanischem Territorium. Oft wurden traditionelle und reformierte, christliche und muslimische Institutionen nebeneinander genutzt und nicht als sich ausschließende Angebote betrachtet.
Schulen für Mädchen und Knaben
Die osmanischen Archive enthalten Tausende von Urkunden und Registereinträgen, die sich auf Stiftungen von und für «Knabenschulen»
(sıbyân mektebleri)
beziehen. Der Begriff
Sıbyân Mektebleri
galt für alle Schulen, die Knaben
und
Mädchen die Grundbegriffe des Lesens und der islamischen Religion vermittelten. Manchmal sprechen die Texte einfach von
Mekteb
(«Schule», arab.
maktab
«Ort des Schreibens») oder
Dâr al-talîm
(«Haus des Unterrichts»). Auch «Haus des Lehrers»
(muallimhâne)
ist eine häufige und passende Bezeichnung für diese traditionellen Ein-Mann-Betriebe. In die Istanbuler Umgangssprache gingen sie als «Stadtviertelschulen»
(mahalle mektebi)
oder «Steinschulen»
(taş mekteb)
ein.
Der Schulbetrieb wurde von vielen türkischen Autoren, die um die Wende zum 20. Jahrhundert oder früher geboren wurden, lebendig beschrieben. In der autobiographischen Literatur fehlt selten ein Kapitel über das Zeremoniell der Einschulung. Der Knabe wurde, meist auf einem Reittier sitzend, morgens feierlich an seiner Wohnung abgeholt und unter Absingen volkstümlicher Hymnen zur Schule des Stadtviertels gebracht. Die folgenden Verse von Yûnus Emre, des bis heute populären anatolischen Barden aus dem 13. Jahrhundert, haben selten gefehlt:
Im Paradies die Flüsse all,
Sie fließen mit dem Ruf: «Allah»,
Und dort auch jede Nachtigall,
Sie singt und singt «Allah, Allah».
Des Tubabaumes Zweige dicht,
Die Zunge, die Koranwort spricht,
Des Paradieses Rosen licht,
Sie duften nur «Allah, Allah».
Die Stämme sind aus Licht so klar,
Aus Silber ist der Blätter Schar,
Die Zweige, die entsprossen gar,
Sie sprossen mit dem Ruf: «Allah».
Die Huris an dem hohen Ort,
Sie strahlen mehr als Mondlicht dort,
Und Moschus, Ambra ist ihr Wort –
Sie wandeln mit dem Ruf: «Allah».
Kaum einer der modernen Autoren von Schulerinnerungen versäumt es, die bekannte Formel zu erwähnen, mit welcher der Vater oder die Mutter ihr Kind dem Lehrer überantwortete: «Sein Fleisch gehört dir, seine Knochen mir!» Damit war natürlich keine «Lizenz zum Schlagen» verbunden (es wird in der alten Türkei nicht mehr Lehrer mit sadistischen Neigungen gegeben haben als im Westen), die Eltern legten vielmehr einen Teil der Erziehungsverantwortung in die Hände des Schulmeisters.
Die Alphabetisierung der Kinder erfolgte, das muss noch einmal betont werden, durch
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