Istanbul: Ein historischer Stadtführer
Na‘îmâ schreibt: «Der Meister der Welt der Vorsehung (also Gott) führte dem Volk seine Kunst vor als Pyrotechniker, als ein Jongleur, der mit Flammen spielt.» Dabei verwendet er die aus der persischen und türkischen mystischen Dichtung vertraute Allegorie des
magister ludi
. Die Undurchschaubarkeit des göttlichen Willens bedeutet für den Frommen, das sei abschließend unterstrichen, keinen Aufruf zur Untätigkeit.
Ein gut verwertbarer Beleg für eine innerosmanische Kritik an zu großer Passivität stellt die Beschreibung einer Feuerlöschaktion im London des Jahres 1867 dar. Der Autor ist ein Ömer Fâ’iz Efendi, der Sultan Abdülazîz auf seiner Europareise begleitete. Er beklagte die Gottergebenheit der Istanbuler, die glauben ihre Häuser mit einem Schild YA HAFİZ («Oh Gott, Behüter und Bewahrer») vor einer Feuersbrunst retten zu können, wo «doch unsere Religion Vorsorge gebietet». Vorbehalte gegen das Brandversicherungswesen blieben bis zum Ende des Reiches bestehen. Religiöse Kritiker verglichen es mit einem verbotenen Glücksspiel bzw. dem bewussten Eingehen eines Risikos.
Schon bei dem Jahrhunderterdbeben von 1509, dem sogenannten «Kleinen Weltuntergang», welches den ganzen östlichen Mittelmeerraum erschütterte, sagt uns die Chronistik, wie rasch die Befestigungen Istanbuls durch Zehntausende von Arbeitern auf Anordnung von Sultan Bâyezîd II. wieder instand gesetzt wurden. Auch andere Quellen sprechen von Reparaturkosten, die der Herrscher übernahm, weil die Stiftungen keine Reserven gebildet hatten.
Erdbeben
Das seismologische Wissen der Osmanen war nicht beeindruckender als im vormodernen Abendland. Vorläufig kennen wir nur wenige Schriften, die, wenn nicht ausschließlich, so doch in der Hauptsache von Erdbeben handeln. Ein Receb-Zâde Ahmed aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts stützt sich zum größten Teil auf Arbeiten des großen, 1505 verstorbenen ägyptischen Universalgelehrten Suyûtî. Der osmanische Autor schloss sich der Meinung «glaubwürdiger» Gelehrter an, die festgehalten haben, dass die Ursache der Erdbeben die sich sträubenden Haaredes Ochsen seien, welcher die Welt auf seinem Rücken bzw. seinen Hörnern trage. Im Jahr 1595 berichtete der Chronist Mustafâ Selanikî, nachdem er klischeehaft über ein Istanbuler Beben gehandelt hatte, von einer gleichzeitigen Erschütterung im entfernten Manisa: «In der Gegend des Dorfs Barcınlı spaltete sich die Erde über zehn Morgen. Auf Befehl trat ein Wasser hervor und erreichte die Höhe eines Minaretts, in dem (Wasserstrahl) schwammen Fische so groß wie Ochsen und mit Ohren, wie Bären Ohren haben, sagen die Leute …» Eine typischere Erdbebenbeschreibung aus dem Geschichtswerk desselben Selanikî betrifft ein Istanbuler Erdbeben im Jahr 1592:
Ein Erdbeben ereignete sich in der Mittwochnacht am 4.
Şabân
des Jahres 1001 zur Zeit des
Temcîd
(das ist die nur in den drei heiligen Monaten vor dem Morgengebet von bestimmten Minaretten herab gesungene «Litanei»). Es versetzte die ganze Welt in Furcht und Schrecken. Die Leute fingen an zu flehen und zu klagen an der Klosterpforte, wo die Schlachttiere zur frühen Morgenstunde geopfert werden (eine etwas komplexe Metapher für Gott). Gott möge ihre Reue annehmen und sie wieder zu Sinnen kommen lassen. Gerechtigkeit und Mitleid galten nichts mehr. Scheußliche Dinge hatten sich zugetragen, die der Gemeinschaft der Gläubigen nicht würdig sind. Wir erlitten wegen unserer schlechten Sitten diese (atmosphärischen?) Unglücke als Manifestation der Stärke Gottes. Oh Gott, Spender der Wohltaten, errette uns vor dem, was uns Furcht bereitet.
Dieses Erdbeben hatte keinen größeren Schaden unter den Menschen und an Gebäuden verursacht, jedenfalls keinen, der dem Chronisten aufzeichnungswürdig erschien. Der Bericht liest sich eher wie eine knappe, aber eindringliche religiöse Ermahnung. Sie ist durchaus nicht allgemein gehalten, auch wenn sie sich auf Andeutungen von begangenem Unrecht beschränkt. Der Chronist verurteilt in der «Verpackung» eines Exkurses über göttliches Wirken seine Kritik an dem Sturz des ihm nahestehenden Großwesirs Ferhâd Pascha wenige Wochen vor dem Ereignis.
Zweihundert Jahre später, gegen Ende des 18. Jahrhunderts, schrieb einer der Nachfolger von Mustafâ Selanikî im Amt des Reichsgerichtsschreibers, Ahmed Vâsıf Efendi, einen kleinen Exkurs zum Thema «Ursachen von Erdbeben». Der in Bagdad geborene Ahmed Vâsıf war ein
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