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Istanbul: Ein historischer Stadtführer

Istanbul: Ein historischer Stadtführer

Titel: Istanbul: Ein historischer Stadtführer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Kreiser
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außerordentlich kenntnisreicher und erfahrener Mann. Unter anderem hatte er die Aufsicht über die staatliche Druckerei inne. 1787 reiste er als Sonderbotschafter an den spanischen Hof. Vâsıf hielt sich nicht bei Stieren oder Fischen auf, welche die Erde tragen oder in Bewegung setzen,sondern er stellte zwei Erdbebendeutungen gegenüber, eine religiös-moralische und eine philosophisch-naturwissenschaftliche:
    Die Religionsgelehrten (
ulemâ)
schreiben die Entstehung der Erdbeben der Unterdrückung und der Sündhaftigkeit zu. Ihre Ansichten stützen sie auf eine Anzahl von prophetischen Überlieferungen (Hadîsen). In den Werken der Philosophen wird (hingegen) vorgetragen, dass die Erdbeben aus der Ansammlung unterirdischer Dämpfe entstehen, welche sich unter dem Einfluss der Sonne gebildet haben. Wegen der starken unterirdischen Hitze steigen diese Dämpfe nach oben. Obschon sie an die Oberfläche kommen wollen, können sie nicht heraustreten. Die Erde überfällt ein Zittern wie ein von Fieber befallener Kranker. Auf diese Weise werden verschiedene metallische Stoffe auf die Erdoberfläche transportiert.
    Die Deutung der Ulemâ unterscheidet sich nicht von der verbreiteten christlichen Vorstellung, dass nicht natürliche Ursachen, sondern Gottes Zorn die Erde beben lasse, als Zeichen seiner Allmacht. Auch die Auffassung, dass Erdbeben ohne katastrophale Folgen als Ermahnung zur Gottesfurcht gesehen werden, teilen die Muslime mit den Christen bis in die unmittelbare Gegenwart. Das Erdbeben als gängiger apokalyptischer Topos in der biblischen Überlieferung und im Koran soll uns hier freilich nicht beschäftigen. Die von Vâsıf den «Philosophen» zugeschriebene Deutung ist ein Nachklang der aristotelischen Erdbebentheorie, die auch das europäische Mittelalter beherrschte. Der vorsichtige Vâsıf überlässt es seinen Lesern, sich für die eine oder andere Deutung zu entscheiden.
    Der in der heutigen Türkei wieder vielgelesene İbrâhîm Hakkı aus Erzurum (1703–1780) erblickte natürliche Ursachen im göttlichen Wirken. Sein
Marifetnâme
ist ein physikotheologisches Kompendium, in dem überwiegend traditionelle Erkenntnisse und theologisches Interesse im Gegensatz zu Vâsıf miteinander versöhnt werden. Im Übrigen schlägt er sich bei der Erklärung der Ursachen von Erdbeben auf die Seite der «Philosophen». Mit Vâsıf und İbrâhîm Hakkî wurden zwei wichtige Autoren herangezogen, die Erdbebenerklärungen des Volksglaubens (Ochsen und Fische) mit Stillschwiegen übergehen und sich den antiken Deutungsformen zuwenden. Die westliche Erdbebentheorie hat weder Vâsıf noch İbrâhîm Hakkı erreicht.
    Im 19. Jahrhundert erscheinen dann die ersten modernen geowissenschaftlichen Lehrbücher in osmanischer Sprache. Damit ist der Streit zwischen Anhängern des Hadîs und der antiken Philosophie vorläufig abgeschlossen. Als Sieger gingen die an europäischen Anstalten ausgebildetenNaturwissenschaftler hervor. Der erste Muslim, der eine einschlägige Dissertation in Europa verfasste, war Halil Edhem (Eldem, 1861–1938), der nach seinem Abschluss in Bern ab 1901 an der Istanbuler Universität, dem Dârülfünûn, Geologie und Mineralogie lehrte.
    Während die traditionellen Gelehrten mehr und mehr zum Schweigen verurteilt waren, konnte niemand die Dichter hindern, sich mit den immer wiederkehrenden Erdbeben auseinanderzusetzen. Tevfîk Fikret (1867–1915) war schon ein bekannter Autor, als das Erdbeben Istanbul 1310 H./1894 D. heimsuchte. Die Übersetzung seines Gedichts «Erdbeben» (
Zelzele
) lässt die für ihn kennzeichnende Verbindung von Katastrophenstimmung und humanistischem Optimismus erkennen.
    Im Jahr 1310 geschah es … Gestern noch warst du zu Gast in dem alten
Schuppen,
als die Erde,
wie man es von nervösen und fiebrigen Kranken kennt,
plötzlich
erregt und anhaltend
von Krämpfen zuckte, zerschlug und zerstörte,
die Gesichter bleichte, voller Kummer, voller Furcht,
Häuser und Herde ein Haufen Elend,
die sich retten konnten, zerschmettert und zerschlagen.
    Die edelsten Köpfe durch fromme Demut gebrochen,
Die Minarette selbst das Haupt zum Boden geneigt.
Oh Mensch, wenn das Schicksal Unheil verkündend zuschlägt,
lerne aus dieser Lehre,
Eine kleine Lehre, die tausend Unglücke erzeugt.
    Du bist Gast der schwarzen Tage
    dein Leben wird gewiss keine leichte und freudenreiche Reise sein
Ist doch
in diesem Jammertal
    eine leichte und freudenreiche Reise nur
ein Hirngespinst; ein Eilen zu der

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