Italienische Novellen, Band 2
Keuschheit. Bei dieser Lebensweise fing er auch an, die Audienzen, die er früher dreimal in der Woche öffentlich seinen Untertanen zu geben pflegte, durch einen Mittelsmann zu erteilen. Und in der Tat, eine der lobenswürdigsten Eigenschaften, die jeder wahre Fürst besitzt, besteht darin, den Klagen und dem Flehen der Seinigen leicht zugänglich zu sein und sich von allem unterrichten zu lassen, was in seinem Gebiete geschieht. Und man muß nicht so unbeschränkt auf seine Diener vertrauen, denn oft begehen sie viele Irrtümer und die schreiendsten Ungerechtigkeiten; denn wenn der Herrscher begierig wäre, zu erfahren, auf welche Art sein Staat regiert, und welche Aufmerksamkeit den Lenkern geschenkt wird, so würden diese viel besser regieren und sich hüten, etwas zu begehen, was getadelt werden könnte. Der König also verfiel in den Fehler, fast niemand Audienz zu erteilen, Waffenhandwerk, Turnier, Buhurt, Jagd, was ihm sonst so viele Freude machte, gefiel ihm nicht mehr; und die Jagd vornehmlich, an deren Übung er sich so sehr zu ergötzen pflegte, und andere Spiele gewährten ihm keine Unterhaltung mehr.
Er hatte an der Themse, dem Flusse Londons, einen sehr schönen Garten mit einem bequemen, heitern Palast, den er gebaut hatte, um sich durch den Aufenthalt daselbst zu erholen. Und weil er auf dem Wege vom Hofe dahin, sei es zu Land oder zu Schiff auf dem Flusse, an dem Hause des Grafen Richard vorüber mußte, machte der König täglich, bald zu Wasser, bald auf der Straße am Hause vorüber, das er von Alix bewohnt wußte, seinen Ausflug dahin, aus Verlangen, sie zu sehen, die stets in seinem Geiste weilte. Es gelang ihm indes selten, sie zu sehen, da sie von den Fenstern gegen die Straße oder von dem Erker gegen die Themse zu, sobald sie merkte, daß der König kam, sich plötzlich zurückzog und versteckte, worüber der König aufs äußerste betrübt war. Und doch freute es ihn schon, nur die Mauern gesehen zu haben, hinter welchen seine grausame und stolze Dame weilte. Aber weil es die Art der feurig Liebenden ist, daß sie, je mehr ihnen der Anblick ihrer Geliebten streitig gemacht wird, diese um so mehr zu sehen wünschen und verlangen, so gab sich der König, dem mehr daran gelegen war, Alix' Anblick teilhaftig zu werden, als seine Herrschaft in Frankreich zu befestigen, je mehr er sich das Liebäugeln versagt sah, um so mehr Mühe und versuchte auf jede Art, wie es ihm gelingen möchte, ihrer ansichtig zu werden. Deshalb fing er an, ganz rücksichtslos nicht nur ihr drei-, viermal des Tages am Hause vorüberzugehen oder mehr oder weniger, je nachdem ihn die Liebe zog, sondern oft ging er auch geradezu ohne sonstige Absicht vor dem Hause auf und ab, so daß in kurzem jedem die Liebe des Königs klar wurde, und was allen verborgen war, das entdeckte sich dem ganzen Volke. So wurde denn unter groß und klein diese Verliebtheit ruchbar; alle hörten von der Sprödigkeit und Grausamkeit der Dame, die sich fast nie mehr an Erker noch Fenster sehen ließ, weshalb alle miteinander die Frau tadelten und bald über dies, bald über jenes sie beschuldigten, indem alle wollten, daß sie sich dem König zur Beute hätte geben sollen. Allen Leuten ist es meistens eine Freude, zu den Festen anderer zu gehen und Gesang und Tanz beizuwohnen; niemand aber mag solches Turnier im eigenen Hause. Alle möchten gern, daß ihre Herren heiter in Lust und Liebe leben, weil man meint, wenn der Herr verliebt ist, seien alle seine Untertanen in Freude und Wonne; niemand aber behagt es, wenn er in seinem Hause mit seinen Frauen schäkert. So hätten denn alle Engländer gern gehabt, wenn der König seinen Zweck erreicht und seine Zeit gut hingebracht hätte; niemand aber wäre es lieb gewesen, hätte sich der König in seine Frau, Tochter, Schwester oder sonstige Angehörige verliebt.
Der König beharrte nun in seinem herben, mühevollen Leben; da er aber immer weniger von der starren und unbezwinglichen Keuschheit der Alix hoffte, wurde er täglich schwermütiger, so daß er mehr einem wilden Tiere des Waldes glich als einem Menschen. Darum wurde nicht nur von der Stadt London, sondern von der ganzen Insel, die bereits in die Mitwissenschaft dieser Liebesangelegenheit gekommen war, die Standhaftigkeit und das keusche Beharren der Frau verabscheut und getadelt, da das Volk immer geneigter ist, das Gute zu tadeln, als das Böse. Dann waren einige am Hofe, die durch Sendungen und Botschaften zugunsten des Königs die Frau
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