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Ivo Andric

Ivo Andric

Titel: Ivo Andric Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Brücke über die Drina
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Besprechungen zwischen den interessierten Höfen fand sie
irgendwo dahinten eine friedliche Beilegung.
    Die Grenze, diese schon immer leicht
entflammbare Grenze, fing dieses Mal kein Feuer. Das Militär, das in so großer
Anzahl die Stadt und die Dörfer an der Grenze erfüllt hatte, begann mit den
ersten Frühlingstagen abzurücken und weniger zu werden. Aber, wie es immer
geschah, die Veränderungen, die die Krise verursacht hatte, überlebten sie. Die
ständige Garnison in der Stadt blieb viel größer, als sie es früher gewesen.
Auch die Brücke blieb uriniert. Niemand dachte mehr daran, außer Alihodscha
Mutewelitsch. Jenes Grundstück auf der linken Fläche neben der Brücke, oberhalb
der alten Mauer, auf dem die Bezirksgärtnerei lag, wurde jetzt von den
Militärbehörden übernommen. In der Mitte der Gärtnerei wurden die Obstbäume gefällt,
und dort wurde ein schönes, einstöckiges Haus gebaut. Das war das neue
Offizierskasino, denn das bisherige, ein kleines, ebenerdiges Gebäude, oben
auf dem Bikawatz, war für die größere Anzahl von Offizieren zu klein geworden.
Es lag nun auf der rechten Seite der Brücke Lottikas Hotel und auf der linken
das Offizierskasino, zwei weiße, fast gleiche Gebäude, zwischen ihnen der
Markt, umgeben von Läden, und oberhalb des Marktes, auf einer kleinen Anhöhe,
die große Kaserne, die das Volk in Erinnerung an Mehmed Paschas Karawan-Serail,
das einst an dieser Stelle gestanden und dann ohne Spur verschwunden war, den
Steinernen Chan nannte.
    Die Preise, die im vergangenen
Herbst durch die Anwesenheit von soviel Militär gestiegen waren, blieben
unverändert und hatten viel eher die Neigung zu weiterem Steigen denn zur Rückkehr
zum alten. In diesem Jahre wurden zwei Banken, die Serbische und die
Mohammedanische, eröffnet. Das Volk benützte die Wechsel wie eine Arznei. Jetzt
entschieden sich die Leute leichter, Schulden zu machen. Aber, je mehr Geld da
war, desto mehr brauchte man. Nur denen, die, ohne nachzurechnen, mehr
verbrauchten, als sie einnahmen, erschien das Leben noch irgendwie leicht und
schön. Die Händler und Geschäftsleute aber waren besorgt. Die Zahlungsfristen
für die Waren wurden immer kürzer, gute und sichere Kunden immer seltener.
Immer mehr Artikel lagen in ihrem Preis jenseits der Kaufkraft der meisten
Menschen. Es wurde nur in kleinen Mengen gekauft, und immer stärker wurde die
Nachfrage nach billigerer Ware. Größere Einkäufe wurden nur noch von unsicheren
Zahlern gemacht. Das einzig sichere und gute Geschäft waren Lieferungen für
das Militär oder irgendeine Behörde, aber die konnten nicht jedem zufallen.
Auch die staatlichen Steuern und Gemeindeabgaben wurden immer höher und
zahlreicher, sie wurden immer strenger eingetrieben. Aus der Ferne fühlte man
das ungesunde Schwanken an den Börsen. Der Gewinn daraus ging in unsichtbare
Hände, der Schaden aber verbreitete sich bis in die entferntesten Winkel der
österreichisch-ungarischen Monarchie und verteilte sich auf den Kleinhandel,
hinunter bis zum Kleinhändler und zum Verbraucher.
    Auch die allgemeine Stimmung in der
Stadt war um nichts heiterer und ruhiger. Jenes plötzliche Nachlassen der
Spannung brachte weder den Christen noch den Mohammedanern in der Stadt eine
wahre Beruhigung der Gemüter; es blieben nur eine verhüllte Enttäuschung bei
den einen und ein Rest von Mißtrauen und Furcht vor der Zukunft bei den
anderen zurück. Die Erwartung großer Ereignisse begann ohne sichtlichen Grund
und unmittelbaren Anlaß erneut zu wachsen. Das Volk hoffte auf irgend etwas und
fürchtete irgend etwas – genauer gesagt, die einen hofften und die anderen
fürchteten sich –, und nur von diesem Gesichtspunkt aus und in diesem Zusammenhang
nahm es alles auf und betrachtete alle Dinge. Unruhig wurde das Herz der
Menschen, auch der unwissenden und einfachsten, besonders aber der
Jugendlichen, und niemandem genügte das einförmige Leben, das er bisher durch
die Jahre schleppte.
    Jeder wünschte sich mehr, forderte
Besseres oder bangte vor Schlimmerem. Die älteren Leute trauerten noch jener
»süßen Stille« nach, die in der Türkenzeit als das Endziel und die vollendetste
Form des öffentlichen und privaten Lebens gegolten und noch in den ersten Jahrzehnten
der österreichischen Verwaltung geherrscht hatte. Aber das waren nur wenige.
Alle übrigen suchten ein lautes, erregendes und unruhiges Dasein. Sie wollten
eigenes Erleben, das Echo fremder Erlebnisse oder wenigstens

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