Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ivo Andric

Ivo Andric

Titel: Ivo Andric Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Brücke über die Drina
Vom Netzwerk:
überlebt und unverändert
getreu ihre Aufgabe erfüllt, aber die Bedürfnisse der Menschen hatten sich
gewandelt und die Dinge in der Welt ver ändert; jetzt war ihre eigene Aufgabe
ihr untreu geworden. Ihrer Größe, Festigkeit und Schönheit nach hätten noch
jahrhundertelang Heere über sie hinwegziehen und Karawanen sich auf ihr
aneinanderreihen können, aber im ewigen und unvorausschaubaren Spiel der
menschlichen Beziehungen war nun plötzlich die Stiftung des Wesirs verworfen
und wie durch Zauber aus dem Hauptstrom des Lebens herausgerissen. Die heutige
Bedeutung der Brücke entsprach in nichts ihrem ewig jungen Aussehen und ihren
riesenhaften und doch harmonischen Ausmaßen. Sie aber stand noch immer so, wie
sie der große Wesir vor seinem inneren Blick hinter geschlossenen Augenlidern
gesehen und sein Baumeister sie geschaffen hatte: mächtig, schön und ewig,
erhaben über alle Veränderungen.
    Es brauchte Zeit, und es kostete
Mühe, bis die Menschen in der Stadt alles das verstanden, was hier in wenigen
Zeilen gesagt worden ist und was sich in Wirklichkeit in wenigen Monaten
abspielte. Nicht einmal im Traum ziehen sich Grenzen so schnell und in so weite
Fernen zurück.
    Alles, was in den Menschen
schlummerte, uralt wie diese Brücke und stumm und unbeweglich wie diese, das
lebte nun plötzlich auf und begann, sich auf das Alltagsleben, die allgemeine
Stimmung und das persönliche Geschick jedes einzelnen auszuwirken.
    Die ersten Sommertage des Jahres
1913 waren regnerisch und lau. Niedergeschlagen saßen die Mohammedaner der
Stadt tagsüber auf der Kapija, ältere Männer, ihrer etwa zehn um einen
jüngeren, der ihnen die Zeitung vorlas, fremde Ausdrücke und ungewohnte Namen
verdolmetschte und ihnen die Geographie erklärte. Alle rauchten ruhig und
blickten unerschütterlich vor sich hin, aber sie konnten es nicht ganz
verbergen, daß sie besorgt und erschüttert waren. Ihre Erregung verbergend, beugten
sie sich über die in der Zeitung abgebildete Karte, auf der die künftige
Einteilung der Balkanhalbinsel eingetragen war. Sie betrachteten das Papier und
sahen nichts in diesen krausen Linien, aber sie wußten und verstanden alles,denn sie trugen ihre Geographie im Blut und empfanden ihr Weltbild biologisch.
»Wem würde Üsküb 24 zufallen?« fragte scheinbar gleichmütig ein Alter den Jungen, der vorlas.
    »Serbien.«
    »Uch!«
    »Und wem gehört Selanik? 25 «
    »Griechenland.«
    »Uch, uch!«
    »Und Jedren 26 ?«
fragte ein anderer.
    »Bulgarien, wahrscheinlich.«
    »Uch, uch, uch!«
    Dies waren keine lauten oder
wehmütigen Seufzer wie bei Weibern oder Schwächlingen, sondern ein dumpfes und
tiefes Ausatmen, das sich zugleich mit dem Tabaksrauch durch die dichten
Schnurrbärte in der Sommerluft verlor. Mancher dieser Alten hatte das
siebzigste Jahr schon überschritten. Zu ihrer Kindheit reichte die türkische
Macht von Lika und Kordun an der österreichischen Grenze bis Stambul und von
Stambul bis zu den unbestimmten Grenzen in den Wüsten des fernen und wegelosen
Arabistan. (Und die »türkische Macht«, das war die große, unteilbare und
unzerstörbare Gemeinschaft des mohammedanischen Glaubens, jener ganze Teil des
Erdkreises, »soweit der Gebetsruf vom Minarett erschallt«.) Dessen erinnerten
sie sich gut, aber sie wußten auch, wie später, zu ihren Lebzeiten, die
türkische Macht aus Serbien nach Bosnien und dann aus Bosnien in den Sandschak
zurückwich. Und nun mußten sie erleben, wie diese Macht gleich einer
phantastischen Ebbe plötzlich abzog und bis in unabsehbare Ferne zurückwich,
während sie, betrogen und bedroht, wie Meerespflanzen auf dem Trockenen, sich
selbst und ihrem schlimmen Geschick überlassen, zurückblieben. Alles kommt von
Gott, und zweifellos war auch dies in die Pläne Gottes einbezogen, aber es war
schwer, alles zu verstehen; der Atem stockte ihnen, und das Bewußtsein trübte
sich, aber gleichmäßig fühlte jeder, wie sich ihm der Erdboden unter den Füßen
wie ein Teppich entzog und wie Grenzen, die ewig und fest sein sollten,
flüssig und veränderlich wurden, zurückwichen, sich entfernten und wie
launische Frühlingsbäche verloren.
    Mit solchen Empfindungen und
Gedanken saßen die Alten auf der Kapija und lauschten abwesend und zerstreut,
was die Zeitungen darüber schrieben. Schweigend hörten sie zu, obgleich ihnen
die Worte, in denen man in den Zeitungen vom Türkischen Reich und den Staaten
sprach, frech, wahnwitzig und unangebracht und die ganze Art zu

Weitere Kostenlose Bücher