Ivo Andric
ständigen Bedürfnis nach solchen. So
kam auch der Herbst 1912 und dann das Jahr 1913 mit den Balkankriegen und den
serbischen Siegen über die Türken. Durch einen sonderbaren Zufall aber kam
gerade das, was von so großer Bedeutung für das Geschick der Brücke und der
Stadt mit allem, was in ihr lebte, war, stillschweigend und fast unbemerkt
heran.
Rotglühend am Morgen und am Abend
und golden leuchtend in der Mitte vergingen die Oktobertage über der Stadt, die
die Maisernte und das Brennen des neuen Raki erwartete. Noch konnte man gut in
der Mittagssonne auf der Kapija sitzen. Es schien, als habe die Zeit über der
Stadt den Atem angehalten. Und gerade dann geschah es.
Noch ehe sieh die Schreibkundigen in
den widersprechenden Zeitungsnachrichten zurechtfanden, war der Krieg zwischen
der Türkei und den vier Balkanstaaten schon ausgebrochen und zog seinen uralten
Weg über den Balkan. Noch ehe aber das Volk Sinn und Umfang des Krieges recht
erfaßt hatte, war er bereits durch den Sieg der serbischen und christlichen
Waffen beendet. Alles dies geschah fern von hier, ohne das Lodern der Feuer auf
den Anhöhen an der Grenze, ohne Geschützdonner und ohne abgeschnittene Köpfe
wie einst auf der Kapija. Wie beim Geld und im Handel, verlief auch bei diesen
größten Dingen alles in der Ferne und unfaßbar schnell. Irgendwo dort in der
fernen Welt spielte man um Länder oder führte Krieg, und dort wurde auch unser
aller Schicksal entschieden.
Aber wenn auch das äußere Bild der
Stadt ruhig und unverändert war, so riefen diese Ereignisse dennoch wahre
Stürme größter Begeisterung und tiefster Niedergeschlagenheit hervor. Denn wie
alles, was in der Welt in den letzten Jahren geschah, wurde auch dies in der
Stadt mit völlig entgegengesetzten Gefühlen bei Serben und Mohammedanern
aufgenommen; lediglich an Stärke und Tiefe waren ihre Empfindungen einander
vielleicht gleich. Diese Ereignisse überschritten alle Hoffnungen der einen,
und alle Befürchtungen der anderen schienen gerechtfertigt. Die Wünsche, die
viele Jahrhunderte vor dem langsamen Gang der Geschichte hergeflogen waren,
konnten ihr jetzt nicht mehr folgen und sie in ihrem phantastischen Flug auf
dem Weg der kühnsten Erfüllungen einholen.
Alles, was die Stadt von jenem
schicksalschweren Krieg sehen und unmittelbar fühlen konnte, spielte sich
blitzschnell und ungewöhnlich einfach ab.
Bei Uwatz, wo die Grenze zwischen
Österreich-Ungarn und der Türkei längs des Flusses verlief und eine hölzerne
Brücke die österreichische Gendarmeriekaserne von der türkischen Grenzwache trennte, trat der türkische
Offizier mit seiner kleinen Besatzung auf österreichisches Gebiet über. Hier
zerbrach er theatralisch seinen Säbel auf dem Brückengeländer und übergab sich
den österreichischen Gendarmen. In diesem Augenblick kam von den Bergen die
graugekleidete serbische Infanterie herunter. Sie löste die veralteten
türkischen Wachposten längs der ganzen Grenze zwischen Bosnien und dem
Sandschak ab. Die Dreiländergrenze zwischen Österreich, der Türkei und Serbien
verschwand. Die türkische Grenze, die noch gestern nur fünfzehn Kilometer von
der Stadt entfernt gewesen, zog sich plötzlich um mehr als eintausend
Kilometer, sogar bis hinter Adrianopel, zurück.
So viele und so gewaltige
Veränderungen in so kurzer Zeit erschütterten die Stadt bis in ihre
Grundfesten.
Für die Drinabrücke war diese
Veränderung schicksalhaft. Die Eisenbahnverbindung mit Sarajewo hatte, wie wir
gesehen haben, alle ihre Verbindungen mit dem Westen abgetötet, und nun war plötzlich
auch die Verbindung mit dem Osten unterbunden. Dieser Osten, der die Brücke
geschaffen und noch bis vor kurzem, wenn auch erschüttert und angegriffen, so
doch ständig und wirklich wie Himmel und Erde, in vielen Gemütern hier gewesen,
war nun wie ein Spuk verschwunden, und jetzt verband die Brücke in der Tat
nichts anderes denn zwei Teile der Stadt und jenes Dutzend Dörfer zu beiden
Seiten der Drina.
Die große steinerne Brücke, die nach
der Absicht und frommen Entscheidung des Wesirs aus Sokolowitschi wie eines
der Kettenglieder des Reiches die beiden Teile der Türkei verbinden und »zu
seinem Seelenheil« den Übergang zwischen Westen und Osten erleichtern sollte,
war nun wirklich von Ost und West gleichermaßen abgeschnitten und wie ein
gestrandetes Schiff oder eine verödete heilige Stätte sich selbst überlassen.
Mehr als drei Jahrhunderte hatte sie alles ausgehalten und
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