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Ivo Andric

Ivo Andric

Titel: Ivo Andric Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Brücke über die Drina
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sollt ihr in vollem Maße genießen. Die
Freiheit des Einzelnen und das Wohl des Ganzen, das wird der Leitstern Unserer
Regierung für die beiden Länder sein ...«
    Mit leicht geöffnetem Munde und
gesenktem Kopfe lauschte Alihodscha diesen größtenteils ungewöhnlichen oder
unbekannten Worten, und auch jene, die ihm an und für sich nicht fremd waren,
erschienen ihm in dieser Zusammenstellung irgendwie sonderbar und
unverständlich: »der Samen, der damals in die Furchen eines aufgewühlten Bodens
gestreut wurde«, »für die Einführung dieser Landesverfassung bildet aber die
Schaffung einer klaren und unzweideutigen Rechtsstellung der beiden Länder die
unerläßliche Voraussetzung ...«, »Leitstern Unserer Regierung...« Ja, das
waren wieder diese »Worte des Kaisers«. Und bei jedem einzelnen von ihnen eröffnete
sich vor dem inneren Blick des Hodscha bald ein ferner, ungewöhnlicher und
gefährlicher Ausblick, bald senkte sich dicht vor seinen Augen ein schwarzer
bleierner Vorhang. So wechselte es ständig: entweder sah er nichts, oder er
sah etwas, das er nicht verstand und das auf nichts Gutes hindeutete. – In
diesem Leben war nichts ausgeschlossen, und jedes Wunder war möglich. Da konnte
man nun noch so aufmerksam zuhören und doch kein einzelnes Wort verstehen,
aber dennoch alles zusammen völlig begreifen und richtig deuten. Dieser Samen,
dieser Leitstern, diese Sorgen des Thrones, alles das hätte auch in irgendeiner
fremden Sprache sein können, und der Hodscha hätte dennoch, so schien es ihm,
verstanden, was man damit meinte und erreichen wollte. Dies riefen sich die
Herrscher nun schon seit dreißig Jahren über die Länder, die Städte und die
Köpfe ihrer Völker hinweg zu. Und schwer wog jedes Wort in jedem Aufruf eines
jeden Herrschers. Von diesen Worten werden Länder zerteilt, Menschenleben zerstört.
So etwas nannte man »Samen... Leitstern ... Sorgen des Thrones«, um es nicht
beim wahren Namen nennen und sagen zu müssen, was es war: daß Länder und
Gebiete und mit ihnen auch die lebenden Menschen und ihre Niederlassungen wie
Kleingeld von Hand zu Hand gingen, daß der rechtgläubige und gutwillige Mensch
auf Erden nicht einmal so viel Frieden findet, wie er für seine kurze
Lebenszeit braucht, daß sich sein Stand und Besitz unabhängig von ihm und
entgegen seinen Wünschen und besten Absichten änderten.
    Alihodscha lauscht, und es kommt ihm
vor, als seien dies die gleichen Worte von vor dreißig Jahren, die gleiche
bleierne Schwere in der Brust, die gleiche Botschaft, daß ihre Zeit vorüber,
daß »das türkische Licht ausgebrannt« sei, nur daß man es ihnen wiederholen
mußte, denn sie wollten es nicht begreifen und einsehen, sondern täuschten sich
selbst und stellten sich unwissend.
    »Ihr werdet euch dafür gewiß des in
euch gesetzten Vertrauens würdig erweisen durch Anhängigkeit und Treue an Uns
und Unser Haus.
    Und so hoffen Wir, daß die edle
Harmonie zwischen Fürst und Volk, dieses kostbarste Pfand alles staatlichen
Fortschrittes, stets Unseren gemeinsamen Weg geleiten wird. Franz Josef I. m.
p.«
    So beendete der Mann im Ledermantel die
Vorlesung, und plötzlich schrie er unerwartet und laut:
    »Es lebe
Seine Majestät, unser Kaiser!«
    »Hoch!«
rief jener lange Ferhad, der die städtischen Lampen anzündete, wie auf
Bestellung. – Im gleichen Augenblick gingen alle anderen schweigend
auseinander.
    Noch war die Nacht an diesem Tage
nicht völlig hereingebrochen, da war schon die große weiße Bekanntmachung
zerrissen und in die Drina geworfen. Am nächsten Morgen wurden einige junge
serbische Burschen unter dem Verdacht verhaftet, das getan zu haben, auf der
Kapija aber wurde das weiße Plakat erneut angeklebt und daneben ein
Gemeindewächter aufgestellt.
    Sobald eine Regierung es für
notwendig befindet, ihren Bürgern durch Plakate Frieden und Wohlstand zu
versprechen, muß man auf der Hut sein und das Gegenteil davon erwarten. Schon
Ende Oktober begann Militär einzutreffen, und zwar nicht nur mit der Bahn,
sondern auch auf der alten, verlassenen Landstraße. Wie vor dreißig Jahren kam
es die steile Landstraße von Sarajewo herunter und rückte mit Waffen und Troß
über die Brücke in die Stadt ein. Außer der Kavallerie waren alle Waffengattungen
vertreten. Alle Kasernen waren voll. Sie lagerten unter Zelten. Unaufhörlich
trafen neue Einheiten ein, blieben ein paar Tage in der Stadt und wurden dann
auf die Dörfer längs der Grenze gegen Serbien verteilt. Die

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