Ivo Andric
Universitäten, auf denen sie lernten. Mit jeden
Sommerferien brachten sie freidenkerische Auffassungen in gesellschaftlichen
und religiösen Fragen und den Schwung des neubelebten Nationalismus mit, der in
der letzten Zeit, besonders nach den serbischen Siegen in den Balkankriegen, zu
einem allgemeinen Glauben und bei vielen Jugendlichen zum fanatischen Wunsch
nach Taten und persönlicher Aufopferung angewachsen war.
Die Kapija war ihr Haupttreffpunkt.
Dort versammelten sie sich nach dem Abendessen. In der Dunkelheit, unter den
Sternen oder beim Mondschein, in stiller Nacht, über dem rauschenden Fluß,
erschallten ihre Lieder, Scherze, lauten Gespräche und endlosen neuen, kühnen,
naiven, aufrichtigen und rücksichtslosen Dispute.
Mit den Schülern zusammen saßen dort
regelmäßig auch ihre Freunde aus der Kindheit, die gemeinsam mit ihnen die
Grundschule besucht hatten und danach als Lehrlinge, Handlungsgehilfen, als
kleine Gemeindeschreiber oder in irgendeinem Betrieb in der Stadt geblieben
waren. Unter ihnen gab es zwei Arten. Die einen waren zufrieden mit ihrem
Geschick und dem Leben in der Stadt, in der sie zeit ihres Lebens bleiben
würden. Mit Neugierde und Sympathie betrachteten sie ihre gebildeten Freunde,
bewunderten sie, ohne sich je mit ihnen zu vergleichen; ohne die geringste
Eifersucht nahmen sie teil an ihrem Fortschritt und Aufstieg. Die anderen gaben
sich nicht mit dem Leben in der Stadt zufrieden, zu dem sie die Verhältnisse
verurteilt hatten, sondern sie wünschten sich etwas, das sie für höher und
besser hielten, das sich ihnen entzogen hatte und mit jedem Tage immer ferner
rückte und unergründbarer wurde. Obgleich auch sie weiterhin mit ihren
studierten Kameraden zusammenkamen, sonderten sich diese jungen Menschen
gewöhnlich von ihren gebildeten Altersgenossen durch grobe Ironie oder
feindseliges Schweigen ab. Sie konnten nicht auf gleichem Fuße an allen ihren
Gesprächen teilnehmen. Gequält durch das Gefühl ihrer Unterlegenheit, betonten
sie bald übertrieben und unaufrichtig im Gespräch ihre Einfachheit und
Unbildung im Vergleich zu ihren glücklicheren Freunden, bald verlachten sie
wiederum alles von der Höhe ihrer Unwissenheit. Im einen wie im anderen Falle
strömte der Neid wie eine fast sichtbare und fühlbare Kraft aus ihnen. Aber die
Jugend verträgt noch leicht die Anwesenheit auch der schlimmsten Triebe und
lebt und bewegt sich frei und sorglos unter ihnen.
Es gab schon immer Bestirnte Nächte
über der Stadt, mit üppigen Sternbildern und Mondschein, und es wird sie auch
weiterhin geben, noch nie aber gab es solche jungen Menschen, die in solchen
Gesprächen, solchen Gedanken und Gefühlen auf der Kapija wachten, und wer weiß,
ob es sie jemals wieder geben wird. Dies war eine Generation aufrührerischer
Engel, in jenem kurzen Augenblick, da sie noch alle Macht und alle Rechte der
Engel und den flammenden Stolz der Aufrührer besitzen. Diese Söhne von Bauern,
Kaufleuten und Handwerkern aus dem abgelegenen bosnischen Städtchen hatten vom
Geschick, ohne große eigene Anstrengung, freien Zugang zur Welt und die große
Illusion der Freiheit erhalten. Mit den ihnen angeborenen Wischegrader
Eigenheiten gingen sie hinaus in diese Welt und wählten, mehr oder weniger
selbst, je nach ihren Neigungen, vorübergehenden Stimmungen oder den Launen
des Zufalls, den Gegenstand ihrer Studien, die Art ihrer Unterhaltung und den
Kreis ihrer Bekannten und Freunde. Die meisten von ihnen vermochten nicht viel
von dem, was sie zu sehen bekamen, zu begreifen oder zu ergreifen, aber es gab
keinen einzigen, der nicht das Gefühl gehabt hätte, daß er zugreifen könne, wo
immer er wolle, und daß alles, was er ergreife, sein sei. Das Leben (dieses
Wort kam sehr häufig in ihren Gesprächen wie auch in Literatur und Politik
dieser Zeit vor, wo es stets groß geschrieben wurde), das Leben stand vor ihnen
wie ein Objekt, wie eine Walstatt für ihre befreiten Sinne, für ihre geistige
Neugierde und die Streifzüge ihrer Gefühle, die keine Grenzen kannten. Alle
Wege standen ihnen offen, weit geöffnet bis in die Unendlichkeit; auf die
meisten dieser Wege würden sie zwar niemals ihren Fuß setzen, aber die
berauschende Lust des Lebens lag gerade darin, daß sie, zumindest theoretisch,
frei wählen konnten, welchen Weg sie wollten, und vom einen zum anderen taumeln
durften. Alles, was andere Menschen und Völker in anderen Ländern und zu
anderen Zeiten, in langen Geschlechterreihen, in
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