Ivo Andric
Heer den Sandschak wie durch ein Wunder geräumt, gerade, als
würde das ganze Schicksal des Krieges und so vieler Tausender lebender Menschen
nicht hier entschieden, sondern irgendwo in der Ferne, unabhängig von jedem
Widerstand, mochte er stärker oder schwächer sein. Da er den Gegner, vor dem er
als Kind aus Uschitze geflohen war und dem er sich auch jetzt erfolglos
widersetzt hatte, nicht abwarten wollte und nicht wußte, wohin er sich sonst
wenden konnte, hatte Mujaga beschlossen, zurück nach Bosnien zu fliehen,
gerade unter jene gleiche Obrigkeit, vor der sein Vater ausgewandert war. Und
so war er, zum dritten Male als Flüchtling, mit seiner ganzen Familie in diese
Stadt gezogen, in der er seine Kindheit verlebt hatte.
Mit etwas Bargeld und mit Unterstützung
der Wischegrader Mohammedaner, unter denen er auch Verwandte besaß, hatte er
sich in diesen zwei Jahren bemüht, ein Geschäft anzufangen. Das war aber nicht
leicht gewesen, denn die Zeiten waren, wie wir gesehen haben, knapp und
unsicher, und das Verdienen auch für diejenigen schwer, die schon seit langem
festen Fuß gefaßt hatten. In der Hauptsache hatte er, auf bessere Zeiten
wartend, von seinem Gelde gelebt. Und nun war nach nur zwei Jahren eines
solchen schweren Flüchtlingslebens in Wischegrad ein solcher Sturm
hereingebrochen, gegen den er nicht ankonnte und nichts vermochte; es blieb ihm
nur übrig, seinen Verlauf sorgenvoll zu betrachten und vor seinem Ausgang und
Ende zu zittern.
Darüber sprachen jetzt die beiden,
ruhig, abgerissen und ohne Zusammenhang, so wie man über Dinge spricht, die nur
zu gut bekannt sind und die man vom Ende, vom Anfang oder von irgendeinem Punkt
in der Mitte betrachten kann. Alihodscha, der Mujaga ungewöhnlich liebte und
schätzte, bemühte sich, irgendein Wort zu finden, das ihn tröstete oder
beruhigte, nicht weil er glaubte, daß es vielleicht etwas helfen könnte,
sondern weil er das Bedürfnis hatte und die Pflicht empfand, seine Anteilnahme
am bösen Geschick dieses anständigen, unglücklichen Mannes und wahrhaften Mohammedaners
zu zeigen. Mujaga saß und rauchte, das Bild eines Menschen, dem das Schicksal
zu Schweres aufgebürdet hat. Auf seinem Haupt und an seinen Schläfen traten
dicke Schweißperlen hervor, standen dort eine Weile, bis sie wuchsen und
schwerer wurden, dann blitzten sie in der Sonne und liefen wie Bäche das
faltige Gesicht hinunter. Aber Mujaga spürte sie nicht, noch wischte er sie
fort. Mit trüben Augen starrte er auf den Rasen vor sich und lauschte entrückt
auf das, was in ihm vorging und was stärker und lauter war als jedes Trostwort
und als die lebhafteste Kanonade. Von Zeit zu Zeit winkte er nur leicht mit der
Hand ab und sprach irgendein Wort, das viel eher Teil seiner inneren
Zwiesprache denn Antwort auf das war, was man zu ihm sagte oder was um ihn
geschah.
»Ja, mein Alihodscha, nun ist es
soweit gekommen, daß man nicht mehr ein noch aus weiß. Gott allein weiß, daß
wir, mein seliger Vater und ich, alles getan haben, um im wahren Glauben und im
echten Islam zu bleiben. Meines Großvaters Gebeine ruhen in Uschitze;
wahrscheinlich findet man heute keine Spur mehr von seinem Grab. Den Vater habe
ich in Nowa Warosch begraben, und ich weiß heute nicht, ob nicht die Herden der
Christen es vielleicht zertreten haben. Ich habe geglaubt, daß wenigstens ich
hier sterben würde, wo noch der Gebetsruf vom Minarett erschallt, aber nach
allem scheint es mir, daß uns geschrieben steht, unser Same solle ausgerottet
und unsere Grabstätte unbekannt sein. Vielleicht ist es so Gottes Wille? Ich
weiß jedenfalls nicht mehr ein noch aus. Es ist die Zeit gekommen, da der wahre
Glaube keinen anderen Weg und Ausweg mehr hat als den, sich zu Tode zu grämen.
Denn was bleibt mir übrig? Soll ich etwa mit Nailbeg und den Schutzkorps
losziehen, um mit einem schwäbischen Gewehr in der Hand zu sterben in dieser
Welt und in jener mit Schande bedeckt, oder soll ich so dasitzen und warten,
bis Serbien auch hierher kommt und ich hier das empfange, wovor wir fünfzig
Jahre lang von einem Ort zum anderen geflohen sind?«
Alihodscha wollte gerade etwas
sagen, das ermutigen und eine kleine Hoffnung eröffnen sollte, als ihn eine
Salve der öster reichischen Batterie von den Butkower Felsen unterbrach, auf
die sofort die Geschütze vom Panos antworteten. Es meldeten sich auch die
hinter Golesch. Sie schossen genau über ihre Köpfe hinweg, und noch dazu
ziemlich niedrig, so daß in beiden
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