Ivo Andric
als dieser. Er saß mit
Alihodscha im Hause, rauchte unaufhörlich, sprach selten und wenig und hing
seinen Gedanken nach, deren Schwere sich auf seinem Gesicht und in jeder
Bewegung widerspiegelte. Es hielt ihn an keinem Fleck. Immer wieder stand er
auf, ging vor das Haus und betrachtete vom Garten aus die Berge um die Stadt zu
beiden Seiten des Flusses. Er stand mit erhobenem Kopfe da und blickte fragend,
als handle es sich um ein Unwetter. Alihodscha, der ihn nie allein ließ und
sich ständig bemühte, ihn in ein Gespräch zu ziehen und zu beruhigen, ging mit
ihm hinaus.
Hier im Garten, der zwar etwas
steil, aber schön und groß war, herrschten Friede und die Reife der Sommertage.
Die Zwiebeln waren schon abgeknickt, die Sonnenblumen standen in voller Blüte,
um ihre schwarzen und schweren Köpfe summten Bienen und Hummeln, die kleinen
Blumen in den Ecken schossen bereits in den Samen. Von dieser erhöhten Stelle
sah man unten die Stadt verstreut auf der sandigen Landzunge wie in einer Gabel
zwischen den beiden Flüssen, Drina und Rsaw, und den Kranz verschieden hoher
und ungleich geformter Berge. In der Niederung um die Stadt und an den steilen
Hängen der Hügel wechselten Streifen und Äcker reifer Gerste mit Flächen von
grünem Mais ab. Weiß glänzten die Häuser, und schwarz schimmerten die Wälder,
die die Höhen bedeckten. Das mäßige Geschützfeuer von beiden Seiten klang von
hier feierlich und harmlos, so weit war die Erde und so hoch schwebte der Himmel
über ihm in der Heiterkeit des Sommertages, der erst zu wachsen begann.
Hier löste sich auch dem besorgten
Mujaga die Zunge. Er antwortete Alihodscha auf dessen gute Worte und erzählte
ihm sein Schicksal, nicht, weil es der Hodscha etwa nicht kannte, sondern weil
er hier in der Sonne irgendwie den Knoten lösen mußte, der ihn im Halse
erstickte und würgte, und weil sich dieses Schicksal gerade hier und jetzt, in
jedem einzelnen Augenblick dieses Sommertages, mit jedem Artillerieschuß von
der einen wie der anderen Seite, entschied.
Er war noch keine fünf Jahre alt
gewesen, als die Türken die Städte in Serbien verlassen mußten. Die Osmanli
waren in die Türkei gegangen, sein Vater aber, Suljaga Mutapdschitsch, ein zwar
noch junger, aber bereits angesehener Mann und einer der Ersten unter den
Türken in Uschitze, hatte beschlossen, mit den Seinen nach Bosnien zu gehen,
woher sie auch einst gekommen waren. Er hatte die Kinder in Tragkörbe gesetzt
und mit dem Geld, das er unter solchen Umständen aus Land und Haus lösen
konnte, für immer Uschitze verlassen. Mit einigen hundert Flüchtlingen aus
Uschitze war er nach Bosnien gekommen, wo noch immer die türkische Macht galt,
und hatte sich mit seiner Familie in Wischegrad niedergelassen, wo schon von
früher her ein Zweig der Uschitzer Mutapdschitsch lebte. Hier hatte er etwa
zehn Jahre gelebt, und gerade als er begonnen hatte, in der Stadt festen Fuß zu
fassen, da war die österreichische Besatzung gekommen. Als harter,
unverträglicher Mensch, hatte er gemeint, es habe keinen Sinn, vor einer christlichen
Obrigkeit zu flüchten, um dann unter einer anderen zu leben. Ein Jahr nach der
Ankunft der Österreicher hatte er wiederum mit der ganzen Familie Bosnien
verlassen, zusammen mit noch einigen Familien, die ihr Leben nicht in einem
Lande verbringen wollten, »wo die Kirchenglocken läuten«, und war nach Nowa
Warosch im Sandschak, das noch unter türkischer Verwaltung stand,
übergesiedelt. (Unser Mujaga war damals ein Junge von etwas mehr als fünfzehn
Jahren.) Dort hatte Suljaga Mutapdschitsch einen Handel eröffnet, und dort
wurden ihm auch die übrigen Kinder geboren. Niemals aber hatte er verschmerzt,
was er in Uschitze zurückgelassen, und niemals sich den neuen Menschen und dem
andersartigen Leben im Sandschak anzupassen vermocht. Das war auch die Ursache
seines vorzeitigen Todes gewesen. Die Töchter, alle schön und von gutem Ruf,
hatten sich gut verheiratet. Die Söhne hatten das kleine väterliche Erbe
übernommen und erweitert. Und gerade als sie sich verheiratet hatten und sich
anschickten, in dem neuen Lebenskreis tiefere Wurzeln zu schlagen, war der
Balkankrieg des Jahres 1912 gekommen. An dem Widerstand, den das türkische
Heer bei Nowa Warosch dem serbischen und montenegrinischen Heer leistete, hatte
sich auch Mujaga beteiligt. Der Widerstand war kurz, und man kann weder sagen,
daß er schwach, noch daß er an und für sich erfolglos war, aber dennoch hatte
das türkische
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