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Ivo Andric

Ivo Andric

Titel: Ivo Andric Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Brücke über die Drina
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Richtungen die Granaten der verschiedenen
Kaliber ständig mit jenem düsteren Heulen über sie hinwegzogen, das dem
Menschen die Eingeweide erstarren läßt und seine Blutgefäße bis zum Schmerz
zusammenkrampft. Alihodscha erhob sich und schlug vor, wenigstens unter dem
Vordach Schutz zu suchen, und Mujaga folgte ihm wie ein Nachtwandler.
    In den serbischen Häusern dagegen,
die um die Kirche auf dem Mejdan zusammengedrängt lagen, gab es weder Klagen
über die Vergangenheit noch Furcht vor der Zukunft, sondern nur Angst und
Mühsal der Gegenwart. Hier herrschte jene besondere, stumme Benommenheit, die
immer bei den Menschen nach den ersten Schlägen eines großen Terrors, nach
Verhaftungen und Morden ohne Recht und Gericht zurückbleibt. Aber unter dieser
Benommenheit war alles das gleiche, wie es früher und schon immer gewesen; das
gleiche heimliche Lauschen wie einst, vor mehr als hundert Jahren, als auf dem
Panos die Feuer der Aufständischen aus Serbien brannten, die gleiche Hoffnung,
die gleiche Vorsicht, die gleiche Entschlossenheit, alles zu ertragen, wenn es
nicht anders ginge, und der gleiche Glaube an ein besseres Ende, dort irgendwo
am Ende aller Dinge.
    Die Enkel und Urenkel jener, die von
diesem Hügel, ebenso in ihren Häusern verschlossen, besorgt und erschreckt,
aber bis auf den Grund ihrer Seele erschüttert, angestrengt gelauscht hatten,
ob sie nicht vielleicht den Donner von Karageorges Geschütz oben vom Weletowo
hören könnten, lauschten jetzt, wie in der warmen Dunkelheit über ihren Köpfen
die schweren Haubitzgranaten heulten und rauschten, rieten nach dem Geräusch,
welches die österreichischen und welches die serbischen waren, lobten oder
verfluchten sie und belegten sie mit Kosenamen oder Schimpfworten, solange die
Geschosse hoch flogen und in der Umgebung der Stadt einschlugen. Legte sich
aber das Feuer auf Stadt und Brücke, dann verstummten sie plötzlich, das Wort
stockte ihnen im Halse, denn sie meinten, und sie hätten sich darauf
verschworen, daß in dieser allgemeinen Stille und bei so viel Raum die eine wie
die andere Seite nur auf sie und das Haus zielten, in dem sie sich befanden.
Und erst nachdem sich der Schall der nahen Explosion verzogen, sprachen sie mit
veränderter Stimme weiter und versicherten einander, daß diese Granate ganz in
der Nähe eingeschlagen habe und daß sie von einer ganz besonders bösen Sorte
gewesen sei, schlimmer als alle anderen Granaten.
    In Ristitschs Haus, das unmittelbar
hinter der Pfarre liegt, aber schöner und größer als diese und durch steile
Pflaumengärten auf beiden Seiten gegen das Artilleriefeuer geschützt, haben
sich die meisten der unsrigen geflüchtet. Nur wenige Männer sind da, aber genug
Frauen, deren Männer verhaftet oder als Geiseln fortgeführt wurden; sie haben
sich mit ihren Kindern hierher geflüchtet.
    Das Haus ist geräumig und reich. In
ihm leben nur Michailo Ristitsch mit seiner Frau und Schwiegertochter, eine
Witwe, die, nachdem sie verwitwet war, nicht wieder hatte heiraten oder nach
Hause zurückkehren wollen, sondern hiergeblieben war, um bei den beiden alten
Leuten ihre Kinder zu erziehen. Ihr ältester Sohn war vor zwei Jahren nach
Serbien geflüchtet und im Balkankrieg als Freiwilliger bei Bregalnitza
gefallen. Er war nur achtzehn Jahre alt geworden.
    Der alte Michailo, seine Frau und
seine Schwiegertochter bewirten diese ungewöhnlichen Gäste wie bei einer
Familienfestlichkeit. Besonders der Alte ist unermüdlich. Er ist barhäuptig,
was ungewöhnlich ist, denn sonst nimmt er seinen roten Fez nie ab; dichtes
graues Haar fällt ihm über die Ohren und in die Stirn, und sein silberner,
starker Schnurrbart, unten gelb vom Tabak, umgibt den Mund wie ein ständiges
Lächeln. Sobald er merkt, daß jemand verängstigter oder eingeschüchterter ist
als die übrigen, geht er zu ihm hin, zieht ihn in ein Gespräch und bietet ihm
Raki, Kaffee und Tabak an.
    »Ich kann nicht, Gevatter Michailo,
ich danke dir wie meinem Vater, aber ich kann nicht, es ist mir hier wie
zugeschnürt«, verteidigt sich eine noch junge Frau und zeigt auf ihren runden
und weißen Hals.
    Sie ist die Frau des Petar Gatalo
von Okolischte. Petar war eines Tages in Geschäften nach Sarajewo gefahren.
Dort hat ihn der Krieg überrascht, und seit damals hat die Frau keine Nachricht
von ihm. Das Militär hat sie aus dem Hause vertrieben, und nun hat sie mit
ihren Kindern hier bei Michailo Zuflucht gefunden, mit dem sie von der Familie
des Mannes

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