Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ivo Andric

Ivo Andric

Titel: Ivo Andric Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Brücke über die Drina
Vom Netzwerk:
Teppich gemacht hatte. Er sah noch, wie sie, geschützt durch
die steinerne Einfassung, so daß man nur ihre Schultern, Köpfe und die langen,
aufgepflanzten Bajonette sah, über die Brücke gingen. Auf den Spitzen der
Butkower Felsen meldete sich der Sonnenaufgang.
    So sind alle ihre Befehle, streng,
wichtigtuerisch und im Grunde sinnlos, dachte Alihodscha und lachte sich ins
Fäustchen, wie ein Schuljunge, der dem Lehrer ein Schnippchen geschlagen hat.
Er hob den Laden so weit, daß er hineinkriechen konnte, dann lehnte er ihn
wieder an, so daß das Geschäft von außen wie geschlossen aussah. In der
Dunkelheit allein geblieben, zog er sich in jenes kleine Hinterzimmerchen
zurück, in das er sich so oft vor der angriffslustigen Welt, vor Gesprächen,
die verderbten und langweilten, vor der Familie und seinen eigenen Sorgen zurückgezogen
hatte. Er setzte sich auf die harte, kurze Bank, schlug die Beine unter und
atmete auf. Noch wogte sein Inneres von den äußeren Eindrücken, dann aber
beruhigte es sich und schwang aus wie eine gute Waage. Der enge Raum des Tabut
erfüllte sich schnell mit der Wärme seines Körpers, und der Hodscha empfand
die Wohltat der Einsamkeit, des Friedens und des Vergessens, die aus dem engen,
dunklen und staubigen Zimmerchen unabsehbare himmlische Gärten mit grünen
Gestaden und unsichtbaren, leise rauschenden Wassern schuf.
    Noch in die Dunkelheit und Enge
dieses schmalen Raumes fühlte man die Frische des regnerischen Morgens und des
Sonnenaufganges. Auch draußen herrschte eine ungewöhnliche Stille, die –
welch Wunder! – weder von einem Flintenschuß, einer menschlichen Stimme, noch
einem Schritt unterbrochen wurde. Alihodscha war von Glück und Dankbarkeit
erfüllt. Siehst du, dachte er bei sich, diese paar Bretter genügen, um mit
Gottes Hilfe den rechtgläubigen Menschen wie eine Arche vor jeder Not und
Fährnis, vor ausweglosen Sorgen und den feuerspeienden Geschützen zu retten
und zu schützen, mit denen sich über seinem Haupte zwei Todfeinde, beide
Ungläubige, und der eine ärger als der andere, bekämpfen. Seit der Krieg
ausgebrochen, hat es eine solche Stille nicht gegeben, dachte der Hodscha erfreut
weiter, und die Stille ist süß und gut; in ihr kehrt, wenigstens für einen
Augenblick, etwas von jenem wahren, menschlichen Leben zurück, das schon seit
langem immer seltener wird und das unter dem Donner der Geschütze der
Ungläubigen völlig verschwunden ist. Die Stille ist zum Gebet bestimmt, sie
ist selbst wie ein Gebet.
    In diesem Augenblick fühlte der
Hodscha, wie der Sitz unter ihm emporschoß und auch ihn wie ein Spielzeug
emporhob; wie seine »süße« Stille zerbrach und sich plötzlich in ein Dröhnen
und berstendes Krachen verwandelte, das die Luft erfüllte, das Gehör betäubte
und für das Ohr überhaupt unmeßbar wurde; wie die Regale an der
gegenüberliegenden Wand zu knirschen begannen und die Gegenstände, die auf
ihnen gelegen hatten, auf ihn zuflogen und er auf sie. Oh, stöhnte der Hodscha.
Eigentlich stöhnte nur sein Gedanke, denn er besaß weder Stimme noch Gehör
mehr, so wie er auch auf der Erde keine Stätte mehr besaß. Alles war zugleich
mit ihm übertönt, betäubt, aus den Wurzeln gerissen und fortgeschleudert. Am
wahrscheinlichsten war noch, daß jene sandige Landzunge zwischen den beiden
Flüssen, auf der die Stadt lag, unter furchtbarem Heulen aus der Erde
herausgerissen und in den Raum geschleudert war, in dem sie noch immer flog;
daß beide Flüsse aus ihrem Bett herausgerissen und das Unterste zuoberst gen
Himmel geworfen waren und jetzt mit dem ganzen Gewicht ihrer Wassermassen wie
zwei Wasserfälle, die noch nicht den Boden erreicht und ihre Kraft gebrochen
haben, in die Leere hineinstürzten. War nicht vielleicht der Jüngste Tag
angebrochen, jene Stunde des Gerichtes, von der die Bücher und die weisen
Männer sprechen, in der diese ganze verlogene Welt im Augenblick verbrennen
würde, so wie ein Funke erlischt? Aber wozu brauchte Gott, der mit seinem Blick
Welten anzünden und auslöschen kann, einen solchen Heidenlärm? Dies war nichts
Göttliches. Woher hatte aber dann die menschliche Hand eine solche Gewalt? Wie
sollte er darauf antworten, überrascht, betrogen und angewidert, wie er von
diesem heimtückischen Stoß war, der alles niederschlagen, zerbrechen und
betäuben wollte, alles, auch die Gedanken der Menschen. Er wußte nicht, was
ihn trug, noch wohin er flog, noch wo er sich aufhalten würde, aber er

Weitere Kostenlose Bücher