Jack McEvoy 01 - Der Poet
meine Schuld. Er wusste es. Er war der Einzige, der es wusste. Aber er hat mir nie einen Vorwurf daraus gemacht, hat es nie jemandem erzählt. Im Gegenteil, er nahm sogar die Hälfte der Schuld auf sich. Das war das Netteste.«
Sie beugte sich mit einem mitfühlenden Gesichtsausdruck über den Tisch. Ich glaube, sie wäre eine gute Psychologin geworden, wenn sie sich für diesen Beruf entschieden hätte.
»Was war passiert, Jack?«
»Sie ist auf einem zugefrorenen See eingebrochen. Demselben See, an dem Seans Leiche gefunden wurde. Sie war größer und älter als ich. Wir waren mit unseren Eltern dort. Wir hatten einen Wohnwagen, und unsere Eltern kochten gerade oder so etwas. Sean und ich waren draußen, und Sarah passte auf uns auf. Ich lief hinaus auf den See. Sarah rannte hinter mir her, um mich daran zu hindern, zu weit hinauszulaufen, dahin, wo das Eis zu dünn war. Aber sie war älter und größer und schwerer, und sie brach ein. Ich fing an zu schreien. Sean fing an zu schreien. Mein Vater und ein paar andere Leute kamen angestürzt, konnten sie aber nicht mehr rechtzeitig erreichen ...«
Ich setzte die Kaffeetasse an den Mund, aber sie war leer. Ich sah Rachel an und fuhr fort: »Alle fragten natürlich, wie das passieren konnte, aber ich konnte nicht... konnte nicht reden. Und er - Sean - sagte, wir seien beide draußen auf dem Eis gewesen, und Sarah sei eingebrochen, als sie uns holen wollte. Das war eine Lüge, und ich weiß nicht, ob meine Eltern sie je geglaubt haben. Ich glaube es nicht. Aber er hat es für mich getan. Es war, als wolle er die Schuld mit mir teilen, sie um die Hälfte leichter machen.«
Ich starrte in meine leere Tasse. Rachel sagte nichts.
»Diese Geschichte habe ich bis jetzt noch nie jemandem erzählt.«
»Vielleicht haben Sie inzwischen das Gefühl, dass Sie es Ihrem Bruder schuldig sind, sie zu erzählen. Vielleicht als eine Methode, ihm zu danken.«
Der Kellner legte die Rechnung auf den Tisch. Ich öffnete meine Brieftasche und zog eine Kreditkarte heraus. Ich kann mir noch eine bessere Methode vorstellen, ihm zu danken, dachte ich.
Als wir aus dem Fahrstuhl traten, war ich vor Angst wie gelähmt. Ich konnte mich nicht dazu bringen, so zu handeln, wie ich es so gerne gewollt hätte. Wir gingen zuerst zu ihrer Tür. Sie holte den Kartenschlüssel aus ihrer Tasche und sah dann zu mir auf. Ich zögerte, sagte jedoch nichts.
»Also«, seufzte sie nach einem langen Augenblick, »morgen geht es wieder früh los. Frühstücken Sie?«
»Gewöhnlich trinke ich nur Kaffee.«
»Okay, dann rufe ich Sie an, und wenn die Zeit reicht, können wir vielleicht zusammen runtergehen.«
Ich nickte stumm, überwältigt von meiner Feigheit.
»Gute Nacht, Jack.«
»Nacht«, brachte ich heraus und machte mich eilends auf den Weg zu meinem Zimmer.
Ich saß eine halbe Stunde lang auf der Bettkante und sah CNN, in der Hoffnung auf irgendetwas, das meine Gedanken von dem katastrophalen Ende des Abends ablenkte. Weshalb, fragte ich mich, fällt es mir gerade bei denjenigen, die mir etwas bedeuten, so schwer, die Hand auszustrecken? Ich hatte den richtigen Augenblick verpasst. Ich hatte ihn ignoriert. Ich war vor ihm davongelaufen.
Es klopfte.
Aufgeschreckt schaltete ich rasch den Fernseher aus und ging zur Tür. Öffnete sie, ohne erst durch den Spion zu schauen. Sie stand davor.
»Rachel!«
»Hi.«
»Hi.«
»Ich - ich würde Ihnen gern eine Chance zur Wiedergutmachung geben. Das heißt, wenn Sie es wollen.«
Ich sah sie an, und ein Dutzend Antworten schossen mir durch den Kopf, die alle darauf abzielten, den Ball wieder in ihre Hälfte zurückzuspielen, sie den entscheidenden Schritt tun zu lassen. Aber plötzlich wusste ich, was sie wollte - und was ich tun musste.
Ich trat vor, legte einen Arm um ihren Rücken und küsste sie. Dann zog ich sie ins Zimmer und schloss die Tür.
»Danke«, flüsterte ich.
Danach sagten wir fast nichts mehr. Sie schaltete das Licht aus. Dann führte sie mich zum Bett, schlang die Arme um meinen Hals und zog mich in einem langen, tiefen Kuss hinunter. Wir nestelten gegenseitig an unserer Kleidung.
»Hast du etwas?«, flüsterte sie. »Du weißt schon, zum Verhüten.«
Ich schüttelte den Kopf, niedergeschlagen. Wäre ich doch vor dem Essen ...
»Aber ich, glaube ich«, sagte sie.
Sie zog ihre Handtasche aufs Bett, und ich hörte, wie der Reißverschluss einer Innentasche aufgezogen wurde. Dann drückte sie mir das Kondom in die Hand.
»Ich habe
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