Jack McEvoy 01 - Der Poet
bereits, er trägt eine Maske. Er kann seine Gefühle gut verbergen. Sie haben ihn bei der Besprechung erlebt. Er hat sich beherrscht. Außerdem müssen Sie wissen, dass man es beim FBI so weit wie möglich vermeidet, Agenten hinauszuwerfen. Solange er gute Arbeit leistet, spielt es keine Rolle, was ich fühle oder sage.«
»Sie haben sich über ihn beschwert?«
»Nicht direkt. Damit hätte ich mir nur selbst geschadet. Ich habe eine beneidenswerte Stellung beim BSS, aber täuschen Sie sich nicht - das FBI ist eine Männerwelt. Und da geht man nicht zum Boss und beklagt sich über Dinge, von denen man annimmt, dass der Ex-Mann sie tun könnte. Wenn ich das versuchte, würde ich wahrscheinlich bei der Abteilung Bankraub in Salt Lake City landen.«
»Was können Sie also tun?«
»Nicht viel. Indirekt habe ich Backus gegenüber genügend Andeutungen fallen gelassen, sodass er weiß, was vorgeht. Aber wie Ihnen aus dem, was Sie heute gehört haben, klar sein dürfte, hat er nicht vor, etwas dagegen zu unternehmen. Ich befürchte, dass Gordon ebenfalls irgendwelche Andeutungen macht. Wenn ich Bob wäre, würde ich mich genauso zurücklehnen, wie er es tut, und darauf warten, dass einer von uns Mist baut. Der Erste, der es tut, wird versetzt.«
»Und wie würde es aussehen, wenn jemand Mist baut?«
»Ich weiß es nicht. Beim FBI weiß man das nie. Aber bei mir muss er vorsichtiger sein als bei ihm. Wegen der besonderen Umstände. Er muss schon sehr gute Gründe haben, wenn er versucht, eine Frau hinauszuwerfen. Das ist mein Vorteil.«
Ich nickte. Die Unterhaltung war an ihrem natürlichen Ende angelangt. Aber ich wollte nicht, dass Rachel in ihr Zimmer zurückkehrte. Ich wollte mit ihr zusammen sein.
»Sie sind ein verdammt guter Interviewer, Jack. Ziemlich gerissen.«
»Wie bitte?«
»Wir haben die ganze Zeit nur über mich und das FBI geredet. Was ist mit Ihnen?«
»Mit mir? Nie verheiratet, nie geschieden. Ich habe nicht einmal Zimmerpflanzen in meiner Wohnung. Ich sitze den ganzen Tag lang am Computer. Ich spiele nicht in derselben Liga wie Sie und Thorson.«
Sie lächelte, dann kicherte sie ein bisschen mädchenhaft.
»Ja, wir sind tatsächlich ein Paar. Waren eins. Ist Ihnen nach der heutigen Konferenz etwas wohler zumute? Nach dem, was sie in Denver gefunden haben?«
»Sie meinen nach dem, was sie nicht gefunden haben? Ich weiß es nicht. Vermutlich ist es besser, anzunehmen, dass er das nicht auch durchmachen musste. Aber trotzdem gibt es nichts, was bewirken könnte, dass mir wohler zumute ist.«
»Haben Sie Ihre Schwägerin angerufen?«
»Nein, noch nicht. Das mache ich morgen früh. Ich finde, das ist etwas, worüber man bei Tageslicht sprechen sollte.«
»Ich habe nie viel mit Angehörigen der Opfer zu tun gehabt«, sagte sie. »Das FBI wird immer erst später hinzugezogen.«
»Aber ich ... Ich bin Meister im Befragen der frisch gebackenen Witwe, der Mutter, deren Kind gestorben ist, des Vaters der toten Braut und was es sonst noch gibt. Ich habe schon alle interviewt.«
Wir schwiegen beide für einen Moment.
Der Kellner erschien abermals mit seiner Kaffeekanne, aber wir lehnten ab.
Ich bat um die Rechnung.
Ich wusste, dass es heute Nacht nicht passieren würde. Ich hatte den Mut verloren. Ich wollte nicht riskieren, von ihr abgewiesen zu werden. Mein Schema war immer dasselbe. Wenn es mir gleichgültig war, ob eine Frau mich zurückwies oder nicht, dann nutzte ich immer die Gelegenheit. Wenn es mir etwas ausmachte und ich wusste, dass die Zurückweisung mir wehtun würde, hielt ich mich stets zurück.
»Woran denken Sie?«, fragte sie.
»An nichts«, log ich. »Das heißt, an meinen Bruder natürlich.«
»Erzählen Sie mir doch die Geschichte!«
»Welche Geschichte?«
»Von neulich. Sie waren im Begriff, mir etwas Gutes über ihn zu erzählen. Über das Netteste, was er je für Sie getan hat. Das, was ihn zu einem Heiligen machte.«
Ich sah sie über den Tisch hinweg an. Ich wusste natürlich sofort, was sie meinte. Ich hätte ohne weiteres lügen und ihr erzählen können, das Netteste sei gewesen, dass er mich vorbehaltlos liebte, aber ich vertraute ihr. Wir vertrauen den Menschen, die uns gefallen, den Menschen, nach denen es uns verlangt. Und vielleicht wollte ich es mir nach so vielen Jahren auch endlich von der Seele reden.
»Das Netteste, was er je getan hat, war, dass er mir nicht die Schuld gab.«
»Wofür?«
»Unsere Schwester starb, als wir noch Kinder waren. Es war
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