Jack McEvoy 01 - Der Poet
schien, als habe sie darauf gewartet. Sie bedeutete mir, rasch hereinzukommen.
»Bobs Zimmer liegt genau gegenüber«, flüsterte sie zur Erklärung. »Was ist?«
Ich antwortete nicht. Wir schauten einander lange an, und jeder wartete darauf, dass der andere etwas unternahm. Schließlich trat ich dicht vor sie, zog sie an mich und küsste sie liebevoll. Es schien ihr ebenso viel zu bedeuten wie mir. Sie umarmte mich heftig. Über ihre Schulter hinweg warf ich einen Blick auf ihr Zimmer. Es war größer als meines, und das Mobiliar war vielleicht ein Jahrzehnt jünger, aber nicht weniger deprimierend. Ihr Laptop und einige Papiere lagen auf dem gelben Überwurf des Bettes, in dem Tausende von Leuten gelegen, gefickt, gefurzt und sich gestritten hatten.
»Seltsam«, flüsterte sie. »Wir haben uns erst heute Morgen getrennt, und trotzdem hast du mir schon gefehlt.«
»Du mir auch.«
»Jack, es tut mir Leid, aber ich habe keine Lust, dich auf diesem Bett, in diesem Zimmer, in diesem Hotel zu lieben.«
»Ist schon in Ordnung«, sagte ich verständnisvoll, obwohl ich die Worte bedauerte, sobald ich sie ausgesprochen hatte. »Ich verstehe das. Auch wenn es so aussieht, als hättest du eine Luxussuite im Vergleich zu meinem Zimmer.«
»Wir holen alles später nach.«
»Na klar. Weshalb wohnen wir überhaupt hier?«
»Bob möchte in der Nähe sein, damit wir sofort reagieren können, wenn er gesichtet wird.«
Ich nickte.
»Können wir dann nicht wenigstens noch für eine Weile von hier verschwinden? Möchtest du einen Drink? Irgendwo in der Nähe muss es doch ein Lokal geben.«
»Wahrscheinlich ist es auch nicht besser als das hier. Lass uns einfach hier bleiben und reden.«
Sie ging zum Bett, räumte es leer und setzte sich mit einem Kissen im Rücken ans Kopfende.
Ich ließ mich auf dem einzigen Stuhl des Zimmers nieder, dessen Sitzbezug offenbar einmal mit einem Messer aufgeschlitzt und dann mit Klebeband repariert worden war.
»Worüber möchtest du reden, Rachel?«
»Ich weiß es nicht. Du bist der Journalist. Ich dachte, du würdest mir gern Fragen stellen.« Sie lächelte.
»Über den Fall?«
»Über irgendetwas.«
Ich betrachtete sie für ein paar Sekunden und beschloss dann, mit einer einfachen Frage anzufangen.
»Was ist dieser Thomas für ein Mensch?«
»Er ist in Ordnung. Für einen normalen Cop jedenfalls. Nicht sonderlich kooperativ, aber kein Arschloch.« »Was meinst du mit >nicht sonderlich kooperativ< Schließlich lässt er zu, dass ihr ihn als menschlichen Köder benutzt. Reicht das nicht?«
»Doch, vermutlich. Vielleicht liegt es an mir. Ich habe offenbar immer Probleme mit den örtlichen Polizisten.«
Ich verließ den Stuhl und setzte mich zu ihr aufs Bett.
»Na und? Es gehört nicht zu deinem Job, mit jedermann gut auszukommen.«
»Das stimmt«, sagte sie und lächelte abermals. »Im Foyer gibt es übrigens einen Getränkeautomaten.«
»Möchtest du etwas haben?«
»Nein, aber du hast von einem Drink angefangen.«
»Ich habe an etwas Stärkeres gedacht. Aber das muss nicht sein. Ich bin auch so zufrieden.«
Sie fuhr mit ihren Fingern durch meinen Bart.
Ich fing ihre Hand ab, als sie sie sinken ließ, und hielt sie einen Moment lang fest.
»Glaubst du, dass die Intensität von dem, was wir tun und womit wir uns beschäftigen, die Ursache hierfür ist?«, fragte ich.
»Ich weiß, worauf du hinauswillst«, sagte sie nach kurzem Schweigen. »Und ich muss zugeben, dass ich noch nie mit jemandem, nur sechsunddreißig Stunden nachdem ich ihn zum ersten Mal zu Gesicht bekommen habe, ins Bett gegangen bin.«
Sie lächelte, und das löste einen wundervollen Schauder in mir aus.
»Ich auch nicht.«
Sie beugte sich vor, und wir küssten uns abermals. Wir versanken in einem Verdammt-in-alle-Ewigkeit-Kuss. Nur war unser Strand die alte Bettdecke in einem schäbigen alten Hotel, dessen beste Zeit drei Jahrzehnte zurücklag. Aber all das spielte jetzt keine Rolle mehr.
Wir passten nicht beide gleichzeitig ins Badezimmer, geschweige denn in die Dusche, also ging sie zuerst. Während sie dusch te, lag ich im Bett, dachte über sie nach und sehnte mich nach einer Zigarette.
Plötzlich war mir, als hörte ich ein leises Klopfen an der Tür. Erschrocken setzte ich mich auf und fing an, mir die Hose anzuziehen, während ich gleichzeitig auf die Tür starrte. Ich lauschte, konnte aber nichts mehr hören. Dann sah ich ganz deutlich, dass sich der Türknauf bewegte. Ich stand auf und schlich
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